Ein schockierter Mensch fährt auf einem Fahrrad durch das Land

Es ist schwierig, mit Menschen gemeinsame Sache zu machen, die ihre Depression nicht selbstkritisch beleuchten möchten, sondern sie wie einen Schutzschild und ein Identifikationsmerkmal vor sich her tragen. Etwas, das ich im Umgang mit psychischen Erkrankungen und Krisen einfach schwierig und wenig hilfreich finde. Weil es in meinen Augen immer wieder zu Konflikten führt. Leider habe ich genau das bei der MUT-TOUR erlebt. Davon berichte ich in diesem Beitrag.

Im August 2021 habe ich an der MUT-TOUR teilgenommen. Ich fand das Projekt toll und die Vorstellung wunderbar, gemeinsam mit anderen auf Depressionen aufmerksam zu machen. Darum wollte ich teilnehmen, darum wollte ich mitmachen.

An und für sich aber ist die MUT-TOUR ein beeindruckendes und unterstützenswertes Konzept. Einmal im Jahr finden sich Menschen mit Depressions-Erfahrung zusammen und teilen sich in Etappen-Teams auf, die meist aus sechs bis zehn Menschen bestehen. Diese Etappen-Teams fahren dann auf Tandems eine festgelegte Route ab. Dabei haben sie Fahnen und Aufnäher an Fahrrädern und Taschen und weisen damit darauf hin, dass Depressionen ein Teil unserer Gesellschaft sind. An manchen Orten halten sie an und kommen mit Menschen ins Gespräch. Dadurch, dass sie auf die sehr auffälligen Tandems angesprochen werden oder indem sie selbst Menschen ansprechen. Übernachtet wird entweder in Zelten oder in Unterkünften, mit denen vorab eine Vereinbarung getroffen wurde. Einer der Gedanken dabei ist, dass das auch ein verbindendes Erlebnis zwischen den Teilnehmern sein soll, an das man sich gerne erinnert.

Es ist aber eben auch ein Raum, in dem ungelöste Konflikte und Projektionen wie in einem Dampfkochtopf miteinander vermengt werden. Und das kann dann eben auch ganz schnell einigen Sprengstoff bilden.

Meine ganz persönliche Erfahrung mit der MUT-TOUR möchte ich jetzt hier aufschreiben. Um ein realistisches Bild davon zu vermitteln, wie es sich anfühlt, wenn das vielleicht alles auch mal nicht so toll funktioniert,  was das mit Selbstreflektion und Respekt zu tun hat und um zur Diskussion zu stellen, wie wir in unserer Gesellschaft den Umgang mit psychischen Problemen gestalten möchten. Den eigenen und den der anderen.

Da das Ganze eine sehr lange Geschichte ist und ich ja auch zu detailreichen Erzählungen neige, habe ich das Ganze in fünf Teile gegliedert, die über die folgenden Links angesteuert werden können. Die Teile entsprechen auch den Tour-Tagen. So kann man beim Lesen immer wieder Pausen machen und die entsprechenden Teile bookmarken:

Teil 1 – Abreise

Teil 2 – Bergauf und Durcheinander

Teil 3 – Arbeitsteilung in Berlin

Teil 4 – Potsdamer Gespräche

Teil 5 – Reflektion und Entwicklung

Legen wir los!


TAG 1 – Abreise  

Nach ein paar Gesprächen im Vorfeld, bei denen wir geschaut haben, welche Etappe am Besten für mich passen würde, wurde ich für die Etappe von Neustrelitz nach Jena eingeteilt und auch direkt mit den beiden alten Hasen bekannt gemacht, die diese Etappe begleiten sollten.

Bei der MUT-Tour gibt es in jedem Team zwei Teilnehmer, die schon ein paar Mal mitgefahren sind und damit die Verantwortung übernehmen, dass es der Gruppe gut geht, dass jeder weiß, wo es lang geht und man immer einen Ansprechpartner hat. Diese Menschen werden intern eben auch gerne „alte Hasen“ genannt. In meinem Fall waren das Paul und Kerstin (Namen geändert). Paul und Kerstin waren ungefähr 20 bis 30 Jahre älter als ich und damit im Alter meiner Eltern. Sie haben sich zudem auf einer der früheren MUT-Touren kennen und lieben gelernt. Eine schöne Geschichte, wie ich bis heute finde.

Im Vorfeld gab es dann auch ein Kennenlern-Gespräch mit den Beiden, in dem ich unter anderem aufgefordert wurde, meine Zugverbindung nach Neustrelitz zu teilen, damit man einplanen könnte, mich vom Bahnhof abzuholen. Das habe ich natürlich gerne gemacht und bin dann ein paar Tage später mit gepacktem Rucksack in Richtung Uckermark aufgebrochen.

Die Kommunikation im Vorfeld

Zur besseren Kommunikation hatte Paul eine Messenger-Gruppe bei Signal eingerichtet. In diese Gruppe habe ich dann auch gepostet, dass ich nun auf dem Weg bin und voraussichtlich pünktlich ankommen werde. Paul schrieb daraufhin: „(wann) möchtest Du abgeholt werden?“

Ich wunderte mich etwas über das in Klammern gesetzte „wann“, weil ich das so verstand, dass er nun offenbar in Frage stellte, ob ich überhaupt abgeholt werden wollte. Im Vorfeld war ja eigentlich klar ausgemacht gewesen, dass das so sein sollte. Aber ich dachte mir nichts weiter dabei und schrieb nochmal meine Ankunftszeit und fügte auch an, dass es toll wäre, wenn mich jemand am Bahnhof abholen würde.

Als ich dort ankam, war da aber leider niemand. Weder auf dem Gleis, noch im Bahnhofsgebäude, noch davor, sah ich jemanden, den ich irgendwie hätte zuordnen können. Ich holte also mein Telefon aus der Tasche und rief Paul an. Es brauchte ein paar Anrufe, bis ich ihn in der Leitung hatte. Dann erklärte er mir, dass er schon in der Behinderten-Werkstatt sei, in der wir uns treffen und übernachten würden und dass er gar nicht gewusst hätte, dass er mich abholen sollte. Er fragte dann, ob er sich auf den Weg machen sollte. Es würde aber etwas dauern, bis er zu mir gelaufen sei. Ich konnte bei Google Maps sehen, dass die Werkstatt gerade mal 1,5 km entfernt war. Ich hatte gedacht, dass er ggf. ein Auto hätte, mit dem wir das Gepäck hätten transportieren können. Da das aber nicht der Fall war, sah ich jetzt keinen Sinn darin, am Bahnhof auf ihn zu warten und sagte, dass ich auch einfach selbst hin laufen könnte und lief los.

Am Anfang erstmal allein

Als ich an der Werkstatt ankam, stand ich auch da etwas auf verlorenem Posten. Da war kein Paul und auch sonst niemand, der mir weiterhelfen konnte. Also rief ich Paul nochmal an. Daraufhin kam er dann aus einem Zimmer im hinteren Bereich nach draußen gelaufen und nahm mich in Empfang. Er sagte mir, dass die anderen bereits gegessen hätten und dass ich mir gerne einen Teller nehmen könnte. Die anderen würden im Garten sitzen und sich kennenlernen. Ich könne ja dann später einfach dazu kommen.

Und so saß ich dann mit einem Teller Würstchen und Kartoffelsalat allein in der Behinderten-Werkstatt, während die anderen sich im Garten untereinander kennenlernten. Ich kann sagen: sehr willkommen fühlte ich mich nicht. Aber ich war guter Dinge, dass sich das bald ändern würde. Sobald ich aufgegessen hätte.

Als mein Teller leer geputzt war, ging ich dann auch in Richtung des Gartens. Da kamen mir Paul und die Gruppe entgegen und sagten, dass wir jetzt die offizielle Kennenlern-Runde machen könnten. Das taten wir dann auch. Wir stellten uns alle untereinander vor, erzählten ein paar Dinge über uns und dann wurde uns die Zuteilung für die Tandems mitgeteilt. Paul und Kerstin würden gemeinsam auf einem Tandem fahren. Das war ungewöhnlich. Eigentlich war die Maßgabe, dass die „alten Hasen“ sich auf zwei Tandems aufteilen sollten und idealerweise mit einem Neuling zusammenfahren sollen, weil es für einen Neuling dann eben doch ein bisschen anspruchsvoll sei, mit einem Tandem zu fahren, an dem ja dann auch noch einiges an Gepäck dran hängen würde. Da Paul und Kerstin aber eben ein Pärchen waren, wollten sie hier gerne eine Ausnahme machen und ich fand das eigentlich auch ganz schön und wollte da jetzt auch nichts dagegen sagen.

Die erste Testfahrt auf dem Tandem

Ich wurde also mit Birte auf ein Tandem eingeteilt (Name natürlich auch geändert). Für sie war es ebenfalls das erste Mal, dass sie bei der MUT-TOUR mitmachte und entsprechend auch das erste Mal, dass sie sich überhaupt auf ein Tandem setzte. Da wir beide also absolute Neulinge waren, boten Paul und Kerstin an, dass wir ein paar Proberunden drehen könnten, bevor es dann morgen losgehen würde.

Also setzten wir uns auf unser Tandem und fuhren los. Ich saß vorne und hatte die Aufgabe, das Ganze zu lenken. Da ich selbst seit ein paar Jahren Rennrad fahre, bin ich einigermaßen geübt darin, Fahrräder zu lenken. Das aber war etwas ganz anderes. Ein Rennrad lenkt sich wie ein Porsche, ein Tandem hingegen wie ein LKW. Das Ganze wirkte sehr wacklig und gleichzeitig aber auch sehr behäbig. Ich teilte Paul und Kerstin mit, dass ich mich schon ein wenig unsicher fühlen würde, aber dass ich es wahrscheinlich mit etwas Erfahrung schon in den Griff bekommen würde.

Daraufhin bot Paul an, dass ich auch gerne mal das Tandem ausprobieren könnte, das für ihn und Kerstin vorgesehen war. Birte und ich taten das und ich musste feststellen, dass sich dieses Tandem sehr viel angenehmer fahren ließ als unseres. Das sagte ich Paul auch. Paul meinte dann, dass wir ja überlegen könnten, zu tauschen, wenn das morgen auch noch so wäre. Das wäre aber etwas Arbeit, da er sich bereits seine Klickpedale an das für ihn vorgesehene Rad geschraubt hätte. Ich fragte mich, wieso wir nicht gleich tauschen würden, wo wir doch jetzt noch so viel Zeit hätten und morgen dann eher im Tour-Stress wären, behielt den Gedanken aber für mich.

Die erste Etappe: auf zum Bürgermeister

Am nächsten Tag packten wir dann die Gepäcktaschen an die Tandems und rollten sie auf die Straße. Jetzt würde es also losgehen. Als erstes stand eine sehr kurze Etappe auf dem Plan: wir würden von der Werkstatt zum Marktplatz fahren und dort offiziell vom Bürgermeister begrüßt und verabschiedet werden. Es war ein Weg von unter einem Kilometer.

Als Birte und ich das erste Mal in die Pedale traten, erschrak ich. Der Lenker des Tandems war gestern schon sehr nervös und wackelig gewesen. Heute konnte ich ihn nun fast gar nicht mehr halten. Insbesondere bei geringer Geschwindigkeit – also natürlich beim Anfahren – zog der Lenker mit unheimlicher Kraft in die Richtung, in die man ihn drehte und man musste sehr viel Kraft aufbringen, um ihn nicht vollständig wegkippen zu lassen. Das führte dann immer wieder dazu, dass man ihn übers Zentrum hinaus bewegte und er dann in die andere Richtung Kraft aufbaute. Das führte am Ende dazu, dass ich den Lenker hin und her zackte in der verzweifelten Bemühung ihn irgendwie grade zu halten. Birte und ich hielten immer wieder an. Wir schoben das Tandem mehr vorwärts mit unseren Füßen auf dem Boden als dass wir tatsächlich fuhren. Mir stand der Angstschweiß auf der Stirn, weil ich spüren konnte, dass ich dieses Gefährt weit weniger kontrollieren konnte als mein Rennrad. Wenn beim Rennrad irgendwas nicht funktioniert, kann ich die Bremsen anziehen und mich mit dem Fuß abstützen. Das war mit dem Tandem viel schwerfälliger. Und es funktionierte auch nur, wenn Birte gleichzeitig mit abstützte. Wenn sie das nicht tat, dann könnte dieses ganze Ding einfach umfallen. Im schlimmsten Fall könnte es einfach mein Bein unter sich begraben. Das war mir alles andere als geheuer und ich hatte wirklich Angst davor, mit diesem Ding Geschwindigkeit aufzubauen. Also beispielsweise eine Steigung herunter zu fahren. Was zwangsläufig passieren würde. Denn der Marktplatz war bergauf. Die Tour danach würde also bergab beginnen.

Bitte lass uns so nicht weiterfahren!

Endlich am Marktplatz angekommen teilte ich meine Bedenken mit Paul. Ich sagte ihm, dass ich mich unheimlich unsicher fühlen würde und bat ihn, die Räder zu tauschen. Er meinte, dass das zeitlich nun nicht mehr funktionieren würde und dass ich mich bestimmt an das Fahrgefühl gewöhnen würde. Ich insistierte, dass ich mich absolut unsicher fühlte und kurz davor sei, das Ganze hier abzubrechen. Er ignorierte das. Und wieder fühlte ich mich allein. Allein mit meiner Angst. Und dem Gefühl, dass mir niemand hilft. Schon gar nicht die „alten Hasen“.

Als wir dann richtig aufbrachen, wurde das Gefühl tatsächlich langsam besser. Je schneller das Fahrrad fuhr, desto stabiler wurde der Lenker. Es reichten aber kleine Einflüsse von außen, um das ganze System in Instabilität zu versetzen. Ein Stein auf der Straße, ein Gegenstand, dem ich ausweichen musste, eine Kurve – immer wieder kam ich in Situationen, in denen der Lenker schwer kontrollierbar wurde. Und vor allem war es jedes Mal aufs Neue herausfordernd, wenn wir irgendwo anhalten und wieder losfahren mussten. Denn je langsamer das Gefährt war, desto wackeliger wurde es.

Immer wieder fielen wir daher hinter die anderen zurück. Immer wieder musste ich also darauf achten, um welche Kurve die da vorne jetzt gerade verschwunden waren. Während ich damit beschäftigt war, den Lenker irgendwie gerade zu halten. Wir kamen vorwärts. Wir hielten irgendwie mit. Aber es war furchtbar anstrengend.

Immerhin sind die anderen gut drauf

Wenn wir näher an den anderen dran waren, konnte ich Paul und Kerstin immer wieder miteinander flachsen hören. Sie freuten sich darüber, wie schön das Wetter sei und wie toll die Landschaften aussehen würde. Ich hatte für all das keinen Sinn. Und dass sie so gute Laune hatten, sorgte bei mir nur noch mehr dafür, dass ich mich unwohl fühlte. Da waren die Experten, die wussten, wie das Ganze hier geht. Die mir vielleiht hätten helfen könnten, wenn sie mir ihr Fahrrad überlassen hätten. Aber die mich einfach nicht beachteten. Für die ihre gute Laune wichtiger war als mein Sicherheitsbedürfnis.

Nach einigen Stunden führte uns unsere Route dann von der Asphaltstraße weg auf einen sandigen Weg durch den Wald. Ein Untergrund, der noch schwerer zu beherrschen war und auf dem ich mich entsprechend noch unsicherer fühlte. Zu allem Überfluss wurden jetzt auch die Steigungen intensiver. An einer Stelle fuhren wir bergab über den sandigen Weg, beschleunigten damit unfreiwillig auf fast 30 Sachen, mussten dann wegen einer Wurzel bremsen, die Reifen blockierten und wir rutschten durch den Sand. Irgendwie habe ich das Tandem abgefangen. Mit Glück. Aber mir stand die blanke Panik im Gesicht.

Dann erreichten wir eine Lichtung mit ein paar Bänken. Hier sollte unser erstes „wir um vier“ stattfinden. Das war eine Methode, die jeden Tag um vier Uhr nachmittags durchgeführt werden sollte. Dabei sollte jeder seine Eindrücke vom Tag schildern und seine Gefühle darlegen, so dass in der Gruppe nichts Unausgesprochenes Probleme bereiten würde. Ich fand diesen Gedanken sehr sinnvoll. Und ich ergriff auch das Wort, um darzulegen, wie ich mich fühlte.

Im „wir um vier“ ins Gespräch kommen

Ich erzählte von meinen Ängsten, von den Schwierigkeiten, das Fahrrad zu steuern und dem Schreckmoment auf dem sandigen Weg. Und ich reflektierte etwas, was mir über die letzten Stunden deutlicher geworden war: ich sah in Paul und Kerstin meine Eltern. Nicht als Person, aber als Handlung. Auch meine Eltern hatten mich immer wieder hängen lassen und waren mehr auf ihren eigenen Vorteil als auf mein Sicherheitsbedürfnis bedacht gewesen. Ich sagte ihnen, dass ich mich durch ihr Verhalten getriggert fühlte. Dass mir klar sei, dass sie nicht meine Eltern seien und dass ich das auch nicht in einen Topf werfen würde. Aber dass dieser Trigger klar spürbar sei und dass wir da aufpassen müssten, was daraus wird. Sie nahmen das zur Kenntnis und machten weiter mit dem nächsten Thema.

Bevor wir weiter fuhren, meldete sich Sebastian Burger über die Messenger-Gruppe bei uns. Sebastian ist der Erfinder und Organisator der MUT-TOUR. Als solcher ist er natürlich nicht bei jeder Etappe dabei. Aber er hat immer ein Auge drauf, wie die Tour gerade läuft. Er meinte, er hätte sich die Fotos von unserer Verabschiedung in Neustrelitz angeschaut und dabei sei ihm aufgefallen, dass an einem der Tandems die Taschen am Lenker zu hoch angebracht seien. Das war unser Tandem! Er empfahl uns, die Taschen so weit wie möglich nach unten zu versetzen. Das taten wir. Und ab diesem Zeitpunkt war der Lenker weitaus weniger wacklig. Es war immer noch anstrengend zu fahren und fühlte sich immer noch weit weniger angenehm an wie das Tandem von Paul und Kerstin am Vortag. Aber es war nicht mehr ganz so katastrophal wie vorher.

Meine Gefühlslage dazu war ambivalent. Einerseits freute ich mich, dass das Problem nun einigermaßen gelindert werden konnte. Andererseits ärgerte ich mich darüber, dass das niemandem vorher aufgefallen war. Hätten die Leiter das nicht wissen können? Hätte es Paul vielleicht eher bemerkt und etwas dagegen unternommen, wenn er als Leiter mit mir als Neuling auf diesem Rad zusammengesessen hätte anstatt mit seiner Freundin auf dem bequemen Tandem? Gab es vielleicht genau deswegen diese Regel, dass immer ein Leiter und ein Neuling zusammenfahren sollen und niemals zwei Neulinge?

Ich entschied mich dafür, nicht sauer sein zu wollen, sondern das Positive mitzunehmen. Wir hatten ja schließlich noch ein paar Tage vor uns und die würde ich lieber genießen und mit guter Stimmung angehen als irgendeinen Groll zu hegen.


TAG 2 – Bergauf und Durcheinander

Am Abend haben wir dann unser erstes Ziel erreicht: ein Zeltplatz in Bredereiche. Nachdem wir unsere Zelte aufgebaut hatten, haben wir noch was gekocht und gegessen und sind dann ziemlich schnell in einen tiefen und wohlverdienten Schlaf gefallen.

Die Fahrt am nächsten Tag verlief zum großen Teil ohne große Vorkommnisse. Birte und ich gewöhnten uns langsam immer mehr an das sehr wackelige und instabile Fahrgefühl. Das konnten wir dann auch noch mal etwas verbessern, indem wir schwere Gegenstände aus den Vordertaschen nach hinten umpackten. Auch so eine Idee, auf die man als erfahrener Tandem-Fahrer früher hätte kommen können, dachte ich so bei mir, behielt den Gedanken aber auch genau dort.

Das Tandem war jetzt so weit austariert, dass auch Birte mal die Steuerung übernehmen wollte und das ließ ich sie natürlich gerne tun. Für mich war das eine interessante Erfahrung. Denn der, der hinten auf dem Tandem sitzt, hat absolut keine Kontrolle darüber, was mit dem ganzen Gefährt passiert. Man kann nicht lenken, man kann nichts steuern. Man kann einfach nur treten. Und man muss den Kommandos des Lenkers folgen. Sonst funktioniert das Ganze nicht. Birte und ich hatten uns schnell ein Set an Kommandos zurecht gelegt, das dafür gesorgt hat, dass wir immer gut und synchron getreten haben und jeder immer wusste, was der andere gerade wollte oder brauchte. Und nachdem ich lange vorne gesessen, Kommandos verteilt, gelenkt und die Verantwortung getragen hatte, war es jetzt fast erholsam, mal hinten zu sitzen, einfach nur zu tun, was man mir sagt und ansonsten die Landschaft genießen zu können.

Die Machtverteilung auf dem Tandem

Hinten sitzend bemerkte ich aber auch, dass man auch hier ein kleines bisschen Macht über das ganze Konstrukt hat. Wenn man die auch nicht gleich bemerkt. Ich konnte einfach ein bisschen weniger stark treten und Birte würde meine fehlende Kraft austarieren müssen. Da man vorne so sehr damit beschäftigt ist, das alles unter Kontrolle zu halten, kann man – zumindest als Neuling – überhaupt nicht einschätzen, wie viel oder wenig Kraft von hinten tatsächlich zugeliefert wird. Ich habe das aber nur kurz ausprobiert und dann wieder mit voller Kraft zugetreten. Ich wollte ja nicht, dass Birte hier die Last für uns beide tragen muss. Sie merkte aber mehrfach an, wie leichtgängig die Pedale da vorne doch wären.  

Dennoch fühlte sie sich vorne nicht sonderlich lange wohl. Relativ schnell wollte sie wieder zurücktauschen und weiter auf dem hinteren Sitz fahren. Ich war fein damit. Sie hatte mir im Laufe der Tour erzählt, dass sie derzeit durch einige persönliche Herausforderungen zusätzlich belastet sei und ich wollte ihr diese Tour so angenehm wie möglich machen und sei es nur dadurch, dass ich etwas mehr Verantwortung für dieses wacklige Gefährt übernehmen würde. Ich sagte ihr auch, dass ich wisse, dass ich oft und gerne zu viel quatschen würde und dass sie mir gerne sagen könne, wenn es irgendwann zu viel für sie werden würde. Sie meinte, dass sie das tun würde, aber dass das aktuell mit mir alles vollkommen im Rahmen und sehr angenehm sei.

Ab und an – wenn ich das Gefühl hatte, dass es ihr gerade gut geht – habe ich sanft in die Kommandos mit einfließen lassen, dass wir jetzt ein wenig stärker treten müssten, weil ich hin und wieder das Gefühl hatte, dass sie immer mal wieder ein bisschen nachlässiger wurde, was das anging. Diese Mini-Motivation hielt dann für eine kleine Weile. Aber meistens musste ich schon kurze Zeit später wieder deutlich mehr Muskelkraft aufbringen. Auch das war aber okay für mich. Ich war ja trainierter Rennrad-Fahrer. Mir tat diese Mehrbelastung wahrscheinlich sogar gut. Und ich konnte sie auch problemlos tragen.

Die Steigung und der richtige Tritt

Nur an einer Stelle wurde es etwas kritisch. Wir kamen an eine kleine Steigung. Ich schaltete bis in den kleinsten Gang und sagte Birte, dass wir jetzt richtig treten müssten, um da hoch zu kommen. Und das mussten wir auch. Teilweise musste ich sogar aus dem Sattel steigen, damit wir genug Kraft hatten, um die Steigung zu schaffen. Ich kenne diese kleinen Steigungen vom Rennrad-Fahren: je länger die Steigung dauert, desto anstrengender wird es. Aber irgendwann kommt ein Punkt, an dem es deutlich angenehmer wird mit dem Treten. Kurz vor der Kuppe, wenn das Ganze etwas mehr abflacht. Das aber ist ein tückisches Gefühl. Es verleitet dazu, einen Tritt rauszunehmen. Genau das darf man aber nicht tun. Denn man ist noch nicht ganz oben. Birte aber tat genau das. Kurz bevor wir an der Kuppe angekommen waren, zu einem Zeitpunkt, an dem es ein bisschen einfacher wurde, hörte sie einfach auf zu treten. Es fühlte sich an, als würde jemand einen Stock in die Pedale stecken. Mit einem Mal konnte ich einfach nicht mehr nach unten treten. Meine Kraft reichte nicht mehr aus, um das Pedal nach zu bewegen. Ich wurde sofort panisch, weil ich befürchtete, dass wir jeden Moment stehen bleiben und umfallen würden. Im Affekt schrie ich sie an, dass sie nicht aufhören und weiter treten soll. Sie schien zu erschrecken und trat mit und als wir oben ankamen, war ich vollkommen außer Atem, hatte einen Puls von 190 und war auch mental einigermaßen herausgefordert. Birte hingegen war seelenruhig, kein Tropfen Schweiß auf der Stirn und meinte, ich müsse sie doch nicht so anschreien. Ich entschuldigte mich sofort dafür. Und fragte mich im nächsten Moment, wie es sein könne, dass sie so gar nicht angestrengt aussah. Da wurde mir dann klar, dass die Tret-Belastung auch in diesem Anstieg offenbar sehr ungleich verteilt gewesen sein musste. Aber auch das behielt ich für mich. Mehr Streit musste einfach nicht sein und wir verstanden uns ja auch gleich wieder. Sie hatte mir mein Anschreien offenbar verziehen und ich ihr das Leisetreten einfach nicht in Rechnung gestellt.

Am späten Nachmittag machten wir dann eine Pause an einem See und hielten das „wir um vier“ ab. Es gab nichts Besonderes, das uns auf der Seele lag und weder Birte, noch ich, sprachen die Steigung an. Ich ging also davon aus, dass das auch von ihrer Seite kein weiteres Problem wäre.

Navigation ist eine Kunst

Kerstin informierte uns darüber, dass wir die Nacht im Garten einer Frau verbringen würden, die der MUT-Tour gegenüber schon seit Jahren sehr verbunden sei. Sie suchte die Adresse raus, zeigte uns auf der Karte, wo wir hin fahren müssten, wirkte dabei aber irgendwie leicht verunsichert. Ich fragte sie, ob sie sich wirklich sicher sei, dass die Navigation so korrekt wäre und bot ihr an, dass ich mir das nochmal genauer ansehen könnte. Sie reagierte sehr abwehrend und sagte, dass sie sehr wohl wisse, was sie tue und dass ich ihr vertrauen könnte. Ich antwortete, dass ich das selbstverständlich tue und verzichtete darauf, tiefer in das Thema hineinzuschauen.

Eine Stunde später kamen wir an unserem Ziel an. Zumindest in der Zielstraße. Die Hausnummer aber konnten wir irgendwie nicht finden. Wir fuhren die Straße mehrfach mit unseren Tandems auf und ab – aber die gesuchte Hausnummer gab es hier einfach nicht. Kerstin nahm daher das Tour-Handy in die Hand und rief unsere Gastgeberin an. Dabei sprach sie aber nicht geordnet, sondern schleuderte aufgebrachte Worte in den Hörer, aus denen ich mir am anderen Ende absolut keinen Sinn hätte machen können. Die andere Person konnte das offenbar auch nicht, denn schon kurze Zeit später konstatierte Kerstin aufgeregt: „die hat einfach aufgelegt!“

Selbstbeherrschung ist auch eine Kunst

Während dieses Telefonats zückte ich mein Handy und schaute nach der Adresse, zu der wir ursprünglich fahren wollten. Zu meinem Erstaunen gab es eine Straße mit genau demselben Namen in einem anderen Ortsteil. Die Straße dort hatte die von uns gesuchte Hausnummer. Die Straße, in der wir uns hier befanden, aber eben nicht. Wir waren also im falschen Ortsteil. Das hätte man erkennen können, wenn man nur mal einen Klick weiter geschaut hätte. Oder wenn man sich mal eben mit mir ausgetauscht hätte und ich einen Klick weiter geschaut hätte. Aber es war ja mein Auftrag, zu vertrauen und eben nicht weiter zu schauen. Und entsprechend standen wir jetzt ein paar Kilometer entfernt von dem Ort, an den wir eigentlich fahren wollten.

Ich kochte innerlich. Es war vollkommen unnötig, dass wir jetzt hier gelandet waren. Das hätte man alles verhindern können. Aber jetzt war es nun mal so. Jetzt musste ich damit leben. Und es würde niemandem helfen, wenn ich jetzt Vorwürfe machen würde oder sauer wäre. Also versuchte ich, mich innerlich zu beruhigen, bevor ich äußerlich überkochen würde. Dann ging ich zu Kerstin und fragte sie ganz ruhig und höflich, ob es möglich sei, dass wir im falschen Ortsteil wären. Ich zeigte ihr mein Handy. Sie schaute sich das an und rief dann „Paul, wir sind im falschen Ortsteil. Wir müssen woanders hin“. Und dann startete sie die Navigation neu und tat so, als wäre es das Natürlichste der Welt. Kein Wort der Entschuldigung. Kein Wort der Reflektion.

Und Selbstreflektion ist die größte Kunst von allen

Eine halbe Stunde später waren wir dann tatsächlich am Ziel. Die Gastgeberin war eine sehr zuvorkommende Person, die uns sofort in ihren Garten bat, uns zeigte, wie und wo wir unsere Zelte aufstellen könnten und dann begann, sich mit uns zu unterhalten.

Während sie mit mir sprach, kamen wir auch darauf zu sprechen, dass ich ab und an etwas Musik mache und sie meinte, dass sie eine Gitarre hätte und ob ich denn darauf spielen wollte. Ich meinte, dass ich das gerne probieren könnte und sie brachte mir die Gitarre. Dann ergriff Kerstin wieder das Wort und redete auf sie ein. Das war mir aber recht, denn so konnte ich die Gitarre in Ruhe stimmen. Das dauerte durchaus ein wenig, da das Instrument offenbar eine ganze Weile nicht mehr genutzt worden war. Nach ein paar Minuten war ich aber soweit, wartete auf eine Redepause und meinte dann, dass ich jetzt soweit wäre und etwas spielen könnte. Die Gastgeberin richtete ihre Aufmerksamkeit auf mich und ich begann zu spielen. Nach wenigen Momenten meinte Kerstin dann zu ihr „lass uns doch mal drinnen nach dem Essen schauen“ und zog sie förmlich ins Haus. Daraufhin saß ich dann allein mit der Gitarre vor dem Haus. Ich spielte dann noch ein, zwei Songs, bis ich dachte, dass ich das ja auch nicht zum Selbstzweck mache und dass ich ja auch irgendwas Sinnvolles mit meiner Zeit anstellen könnte, was der Gruppe mehr hilft – mithelfen beim Essen kochen beispielsweise oder das Zelt einrichten oder was auch immer. Also brachte ich die Gitarre wieder ins Haus. Aber natürlich fragte ich mich auch, ob mein Spiel denn nun wirklich so schlecht war, dass man in dieser Form davonrennen musste und ich musste zugeben, dass mich das schon ein wenig getroffen hatte.

Danach aßen wir dann zusammen und gingen in unsere Zelte, um uns auszuschlafen. Morgen würde es dann weiter nach Berlin gehen.


TAG 3 – Arbeitsteilung in Berlin

Am nächsten Morgen bauten wir dann im Morgengrauen unsere Zelte ab. Bei der ersten Übernachtung war ich dabei noch recht unsicher gewesen und wusste nicht so richtig, was ich wie tun sollte und welche Dinge wohin verpackt werden mussten. Diesmal fühlte sich das alles schon deutlich routinierter an. Und so war ich mit dem Abbau und dem Verpacken meines Zeltes und meines Gepäcks schon deutlich früher fertig als alle anderen. Vor allem aber war ich deutlich schneller gewesen als Kerstin, die die ganze Zeit über irgendetwas lamentierte, sich immer wieder verzettelte und einfach nicht mit dem Einpacken voran kam.

Ich half währenddessen Birte und einer anderen Mitreisenden dabei, ihre Zelte abzubauen und zusammenzupacken und irgendwann waren wir alle fertig und warteten nur noch auf Kerstin und Paul. Wir boten unsere Hilfe an, die wollten sie aber nicht und so dauerte es noch eine Weile, bis wir abreisefertig waren, aber irgendwann waren dann auch die beiden so weit, dass wir abfahren konnten.

Vernetzung in Berlin

Jetzt hatten wir allerdings ein wenig Stress, da wir in Berlin bei einer Straßenveranstaltung des örtlichen Depressions-Vereins erwartet wurden. So wurden die Pausen dann ein wenig kürzer, die Geschwindigkeit ein wenig höher und der Stresspegel ein bisschen angespannter. Aber wir kamen irgendwann an. Zwar zu spät, aber das schien der Stimmung keinen Abbruch zu tun. Die Menschen vor Ort freuten sich darüber, dass wir da waren, wir fingen alle schnell an, Gespräche zu führen und in Berlin war es dann auch das erste Mal, dass ich ein bisschen was über „Steine im Rucksack“ erzählen konnte. In Einzelgesprächen.

Im Vorfeld hatte ich mit Sebastian Burger, dem Organisator der Tour, ausgemacht, dass ich mein eigenes Projekt – also mein Buch und mein Hilfsportal – weitestgehend zurückstellen würde. Anfangs war mein Gedanke noch, dass ich ja mit einem „Steine im Rucksack“-Shirt mitfahren könnte. Wir hatten uns dann aber darauf geeinigt, dass das hier alles unter der Fahne der „MUT-TOUR“ stattfinden sollte und ich mein Projekt eher in Einzelgesprächen einbringen könnte, aber nicht an die große Glocke hängen sollte. Ich war damit einverstanden. Das hier war sein Projekt und ich war ein Teilnehmer von vielen. Das war für mich vollkommen in Ordnung. Aber natürlich freute ich mich auch, wenn ich hier ein, zwei Menschen von meinem eigenen Engagement erzählen konnte, dem ja nichts so sehr fehlte und fehlt wie Reichweite und Vernetzung.

Ein festes Dach über dem Kopf

Abends kamen wir dann in einem Gemeindezentrum an, das unsere Herberge für die Nacht sein sollte. Wir durften unsere Schlafsäcke in den Gemeinderäumen auslegen und die Küche und die Duschen während unseres Aufenthaltes nutzen. Wir freuten uns darüber, eine Bleibe mit festem Dach für diese Nacht zu haben, denn draußen hatte es schon bei unserer Anfahrt begonnen, ordentlich zu regnen. Jetzt etwas Trockenes zu haben, war wirklich wertvoll.

Beim „wir um vier“ an diesem Tag teilte uns Kerstin mit, dass Birte sich aktuell noch etwas drastischerer persönlicher Herausforderungen gegenübersehen würde und daher unter stärkerer mentaler Belastung stünde. Sie würde daher für die Nacht einen abgetrennten Bereich bekommen, um ein bisschen mehr für sich sein zu können und außerdem von allen Pflichten der Gruppe entbunden werden. Wir waren damit natürlich alle einverstanden.

Am Abend kochten wir dann wieder gemeinsam, schnippelten ein bisschen Gemüse zusammen und lachten viel miteinander. Auch Birte schien das sichtlich gut zu tun.

Aufräumen im Gemeindezentrum

Am nächsten Morgen stand dann an, das Gemeindezentrum wieder in gepflegtem Zustand zurück zu übergeben. Wir räumten unsere Schlafsäcke zusammen, packten unser Gepäck in die Radtaschen und räumten im Gebäude alles wieder so hin, wie wir es vorgefunden hatten. Auch diesmal war ich deutlich schneller fertig als die anderen. Aber diesmal fand ich nichts, woran ich mich noch hätte beteiligen können. Also zog ich mein Handy aus der Tasche und machte einen Instagram-Post über die MUT-Tour fertig.

Plötzlich rief Kerstin in den Raum, dass hier wohl mal gefegt werden müsste. Ich steckte mein Handy weg und fragte sie, wo denn ein Besen sei. Ich würde das dann übernehmen.  Sie ignorierte das, war schon wieder auf dem Weg irgendwo anders hin und ich dachte nicht weiter darüber nach und holte mein Handy wieder raus, um fertig zu bringen, was ich gerade getan hatte: einen Post über die MUT-TOUR abzusetzen.

Dann kam Kerstin direkt auf mich zu und meinte, ich könnte doch wohl hier mal fegen. Ich entgegnete, dass ich das gerne tun würde, aber dass ich nicht wüsste, wo der Besen sei und eben ja auch schon danach gefragt hatte. Sie holte dann irgendwo einen Besen her, zischte mich an, dass man mir immer alles zwei Mal sagen müsste und dampfte wieder von dannen.

Ich war verwundert über diese negative Energie, nahm aber natürlich den Besen zur Hand und fegte die Küche durch. Dann stellte ich ihn wieder in die Ecke, schaute mich um, befand, dass wir mit allem durch seien und alle Taschen gepackt seien (außer denen von Kerstin und Paul) und fragte, ob wir langsam abfahrbereit seien.

Kerstin meinte dann, dass sie gerne noch ein Einzelgespräch mit mir haben wolle. Ich war ziemlich überrascht darüber, sagte aber natürlich zu und meinte, dass wir das gerne auch sofort machen könnten. Taten wir dann auch.

Das Tribunal in Berlin

Wenige Momente später saß ich dann gegenüber von Kerstin und Paul in einem Raum und Kerstin eröffnete relativ schnell das Gespräch ohne irgendeine Art von Einleitung: „ich finde, dass Du hier die ganze Zeit nur faul rumsitzt und man Dir immer alles zwei Mal sagen muss, was Du machen sollst. Das geht so nicht. Ich bin ja nicht Deine Mama“.

Ich fühlte mich vollkommen überfahren und brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. Dann antwortete ich: „ähm, ich bin jetzt nicht der Meinung, dass ich hier zu wenig machen würde. Ich muss halt manchmal nachfragen, weil ich nicht genau weiß, was ihr jetzt wie und wo machen wollt. Aber ich hab jetzt an beiden Tagen den anderen geholfen, ihre Zelte abzubauen und ihre Sachen zu packen und ich hab eigentlich eher das Gefühl, dass ich insgesamt eher mehr mache als andere. Das führt dann aber halt auch irgendwie dazu, dass ich nutzlos rumstehe, weil ich einfach nicht mehr weiß, was zu tun ist. Ich übernehme ja gerne auch andere Aufgaben. Aber dann muss man mir eben schon auch sagen, was ich tun soll“

Sie meinte, dass sie das anders wahrnehmen würde und ich bot daraufhin an, dass wir ja einfach die Gruppe fragen könnten, wie sie das sehen würde. Schließlich gab es mit Birte ja noch meine Mitfahrerin und mit Anja und Erika auch noch ein weiteres Tandem mit zwei Menschen, die dazu eine Meinung haben könnten.

Bevor wir die aber dazu holten, fiel mir noch ein Punkt auf, den ich unbedingt loswerden wollte: „Aber Kerstin, ganz ehrlich, den Satz mit ‚ich bin nicht Deine Mama‘, den hättest Du Dir wirklich sparen können. Ich habe im ersten ‚wir um vier‘ ja angesprochen, dass ich Schwierigkeiten damit habe, wie ihr Euch als Pärchen mir gegenüber verhaltet und dass ich versuche, das als mein Thema im Griff zu haben und diesen Trigger nicht auf Euch zu projizieren. Wir alle haben unsere Trigger und ich glaube auch irgendwie, dass ich irgendwas in Dir antriggere und das tut mir leid und wenn ich etwas tun kann, dass das weniger wird, dann sag es mir bitte. Aber es hilft wirklich nicht, wenn Du auf einen von mir ja schon dargelegten Trigger einfach überhaupt keine Rücksicht nimmst und in dieser Weise da nochmal drauf drückst. Das muss einfach nicht sein“.

Darauf reagierte sie wie so häufig…gar nicht. Und so holten wir dann die übrigen Menschen dazu.

Das Urteil der Gruppe

Kerstin schwieg erstmal, also übernahm ich das Wort. Ich fasste zusammen, dass mir Kerstin gerade im Einzelgespräch vorgeworfen hatte, zu wenig für die Gruppe zu leisten. Ich merkte an, dass ich das nicht so sehen würde, dass ich aber bereit wäre, mich zu hinterfragen, wenn mir die Gruppe jetzt sagen würde, dass ich mehr Einsatz zeigen sollte. Aber ich wollte eben auch wirklich die ganze Gruppe gefragt haben, um auszuschließen, dass es sich hier um ein persönliches Thema von Kerstin handeln würde.

Anja und Erika wirkten von dieser Frage etwas überfahren. Nach einigem Überlegen meinten sie dann aber beide: „naja, ab und zu muss man Dir sagen, was Du machen sollst, aber das ist ja normal, wenn man das erste Mal dabei ist, aber Du hilfst uns auch hier und da ganz schön viel und eigentlich habe ich jetzt nicht den Eindruck, als würdest Du irgendwie zu wenig tun“

Und dann kam Birte: „ich finde schon, Du könntest Dich ein bisschen mehr engagieren“.

Birtes Brutus-Moment

Birte. Der Mensch, für den ich in den letzten drei Tagen ganz schön viel Pedal-Arbeit übernommen hatte. Die mich gerne in den Fahrersitz gesetzt hat und mich die Verantwortung für unser wackliges Tandem tragen ließ. Die an der Steigung einfach aufgehört hatte, zu treten. Die in der letzten Nacht ein Einzelzimmer bekam und überhaupt nichts für die Gruppe getan hat. Was ja auch vollkommen okay war. Was einen in meinen Augen aber irgendwie vielleicht auch ein bisschen demütig machen sollte. Genau diese Birte rammte mir jetzt mit voller Wucht ein Messer in den Rücken. Das tat weh. Aber mal so richtig.

Ich meinte, dass ich das erstmal verdauen müsste und gelobte Besserung. Daraufhin meinten Paul und Kerstin dann, dass wir ja jetzt alles geklärt hätte und los fahren könnten. Als Birte und ich unser Tandem bestiegen, raunzte sie mich dann noch an „es wäre gut, wenn Du heute mal nicht so viel reden würdest wie sonst“. Es hörte und fühlte sich an wie ein Vorwurf. Wie wenn ich sie an den Rand des Wahnsinns gebracht hätte mit meinem ständigen Gequatsche. Obwohl ich ja immer wieder gesagt hatte, dass sie mir sagen kann, wenn ich zu viel rede. Vielleicht war das auch einfach ihre Art, das zu tun. Vielleicht war es jetzt einfach mein Job, das zu akzeptieren.

Das tat ich dann auch. Und trat schweigend in die Pedale.

Auf nach Potsdam!


TAG 4 – Potsdamer Gespräche

Den ersten Teil dieses vierten Tages legten Birte und ich schweigend zurück. Ich sagte einfach absolut nichts mehr. Sondern trat schweigend in die Pedale. Ab und zu gab ich ein Kommando. Sonst war Ruhe. Birte hatte mir ja sehr klar zu verstehen gegeben, dass sie genug von meinem Gerede hätte. Aber es dauerte nicht lange, bis Birte von sich aus anfing, zu kommunizieren. Sie erzählte und erzählte und sie fragte mich immer wieder, wie ich dies oder jenes sehen würde. Ich antwortete enorm schmallippig. Einsilbig. Ich wollte auf gar keinen Fall zu viel sagen. Aber mit der Zeit taute ich dann doch wieder mehr und mehr auf und dachte mir „ach komm, so schlimm war es jetzt auch nicht. Dann lass uns doch einfach gute Laune haben. Das tut doch allen gut“.

Potsdam haben wir dann gegen Mittag erreicht und uns entschieden, eine längere Pause auf dem Luisenplatz einzulegen, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Erika bot an, uns ein paar Cappuccinos zu besorgen und Birte und ich standen an einem der MUT-TOUR-Tandems und warteten auf Leute, die uns ansprechen wollten.

Können Sie mir helfen?

Wir mussten nicht lange warten. Plötzlich stand eine ältere Frau vor uns und erzählte uns, dass sie einen Angehörigen hätte, der unter psychischen Problemen leiden würde, aber dass sie einfach nicht wisse, wohin sie sich wenden solle und ob wir ihr vielleicht ein paar Hinweise geben könnten. Ich dachte mir, dass das ja exakt das ist, was das Hilfsportal www.steine-im-rucksack.de tut, aber ich wollte jetzt auch nicht in den Verdacht kommen, die Situation irgendwie auszunutzen. Auch wenn dieser Gedanke irgendwie komisch war, denn ich habe ja keinen Nutzen davon, wenn jemand dieses Hilfsportal besucht. Auf jeden Fall aber wollte ich Birte nicht stören, die das Gespräch bereits an sich gezogen hatte.

Birte meinte: „ja, wir sind die MUT-Tour und wir wollen auf Depressionen aufmerksam machen, weil das ist eine Krankheit wie jede andere und darum fahren wir hier mit Tandems durchs Land“.

Die Dame wirkte etwas überfahren und sagte: „ja, ich weiß, was Depressionen sind. Ich bräuchte einfach etwas konkrete Orientierung, wo ich Hilfe für meinen Freund her bekomme“.

Und Birte spulte dieselbe Kassette nochmal ab: „ja, wir sind die MUT-Tour und wir machen auf Depressionen aufmerksam, weil die sind ja eine Krankheit und darum fahren wir mit Tandems hier lang“.

Ich höre das bis heute vor meinem geistigen Ohr.

Die alte Dame schaute jetzt etwas verwirrt und war schon dabei, sich abzuwenden. Ich holte dann einen Flyer zu „Steine im Rucksack“ aus meiner Tasche, übergab ihn an sie und meinte „da stehen ein paar Hinweise drauf, wie und wo sie sich Hilfe holen können. Hat nichts mit der MUT-TOUR zu tun, aber vielleicht hilft es Ihnen ja irgendwie. Und wenn nicht, dann schmeißen Sie’s einfach weg“.

Hilfe sollte immer von überall kommen

Die Dame freute sich sichtlich, packte den Flyer weg und verabschiedete sich von uns. Und ich freute mich, dass es eben doch immer wieder kleine Gelegenheiten gab, in denen ich weiterhelfen konnte. Genau dafür war das Hilfsportal ja auch da. Um Menschen Orientierung zu geben, wo es Hilfe gibt und sie zu motivieren, sich um diese Hilfe zu bemühen.  

Kurz darauf packten wir unsere Sachen zusammen und fuhren weiter. In den Minuten nach der Abfahrt war Birte wieder recht schweigsam, also hielt auch ich meinen Mund. Ich hatte den Vorwurf noch zu gut vor Augen. Ich wollte keinen weiteren Anlass für irgendwelchen Ärger bieten. Irgendwann aber schien Birte wieder gut gelaunt zu sein, machte Scherze, fragte mich nach irgendwelchen Dingen und die ganze Fahrt fühlte sich wieder recht beschwingt an.

Kurz vor vier machten wir dann wieder Halt an einem See, denn es war Zeit für unser tägliches „wir um vier“. Jeder von uns teilte also ringsum seine Ansichten darüber, wie es ihm oder ihr so ging und was gerade so in der Seele los war. Als ich an der Reihe war, erzählte ich, dass ich das Gefühl hätte, dass sich die Ärgernisse vom Morgen gelöst hätten und dass die Stimmung mittlerweile recht gut sei. Ich würde mir die Kritik dennoch zu Herzen nehmen und schauen, dass ich mich besser in die Gruppe einbringen könne.

Und dann macht es bumm!

Dann war Birte an der Reihe. Und sie sagte: „ich glaube, Ferdinand macht das Ganze hier zu seiner Show. Den interessiert die MUT-Tour gar nicht. Der will hier einfach nur sein „Steine im Rucksack“-Ding verkaufen und das geht mir ziemlich auf die Nerven“.

Es war, wie wenn jemand eine Bombe in die Runde geworfen hätte. Paul schaute betreten, ich war vollkommen entgeistert. Birte hingegen saß da und schien ziemlich zufrieden zu sein mit sich. Auch Kerstin konnte ein kleines Grinsen nicht verbergen.

Wie die nächsten Minuten dann genau abliefen, weiß ich nicht mehr ganz genau. Vieles von dieser Tour erinnere ich noch ziemlich präzise – diese paar Minuten aber nicht mehr. Ich glaube, wir haben uns über die Szene auf dem Marktplatz ausgetauscht und unsere gegenseitigen Perspektiven dargelegt. Ich meine auch, dass ich Birte gegenüber klar gemacht hätte, dass „Steine im Rucksack“ nichts sei, mit dem ich Geld verdienen würde und dass ich keinen Vorteil davon hätte, wenn ich das irgendwem anbiete, sondern dass das einfach nur ein Angebot sei, um Menschen Orientierung und Hilfe zu geben. Ohne irgendeinen Profit- oder Konkurrenzgedanken.

Aber ich weiß es einfach nicht mehr.

Was ich noch weiß, ist, dass Paul irgendwann gesagt hat, dass wir uns jetzt vielleicht alle mal ein paar Minuten sammeln sollten. Vielleicht ein bisschen um den See laufen und nachdenken. Und dann könnten wir ja nochmal zusammenkommen.

Gedanken sammeln am See

Und das tat ich dann auch. Ich lief am Ufer auf und ab und ließ die Gedanken fließen. Und dann fasste ich einen Entschluss. Ich würde mir anhören, was Birte zu dem Ganzen zu sagen hätte, nachdem sie ja eben meine Perspektive gehört hatte. Irgendwie muss es also doch so gewesen sein, dass ich irgendwie meine Sicht der Dinge dargelegt hatte. Denn ich weiß noch genau, dass ich auf eine Antwort von Birte gewartet hatte. Irgendeine Aussage. Irgendetwas, mit dem ich arbeiten und eine Entscheidung treffen könnte.

Dann setzten wir uns wieder in einen Kreis. Birte nahm eine resolute Position ein. Eine Position, die mir irgendwie sagte „ich bin im Recht und werde nicht einen Millimeter davon abweichen“.

Dann eröffnete Paul das Gespräch und meinte: „ich denke, ihr habt Euch alle Gedanken gemacht. Ferdinand, willst Du anfangen?“

Und in diesem Moment fühlte ich mich dann einfach nochmal überfahren. Ich hatte erwartet, dass Birte eine Aussage dazu machen würde, wie sie die ganze Situation sieht, nachdem sie ja von mir gehört hatte, wie ich sie wahrgenommen hatte. Meine Position war doch relativ klar. Da musste doch nichts mehr erklärt werden. Wieso wurde ich denn jetzt als Erster gefragt?

Genau in diesem Moment klickten dann einfach ein paar Dinge in mir: wenn Birte so selbstgerecht dasitzt, wird sich da keine Änderung einstellen. Wenn Paul nicht in der Lage ist, diese Situation so zu moderieren, dass hier ein echter Ausgleich stattfindet, dann ist es jetzt vielleicht einfach genug.

Und dann geht alles ganz schnell

Also sagte ich: „ja, ich habe mir Gedanken gemacht. Diese MUT-TOUR endet an dieser Stelle für mich. Ich habe vieles akzeptiert und hingenommen, ich habe immer wieder versucht, mich so einzuordnen, dass es für die Gruppe passt, aber die Art und Weise, in der mir hier immer wieder ein Messer in den Rücken gestochen wird, die akzeptiere ich nicht mehr. Das hier ist meine Freizeit. In meiner Freizeit habe ich kein Interesse daran, dass ich mich andauernd gegen irgendetwas verteidigen muss, immer wieder irgendwelche Anschuldigungen ertragen muss – tut mir leid, aber dafür bin ich mir wirklich zu schade. Ich kann besseres mit meiner Zeit anfangen. Bitte bringt mich zum nächsten Bahnhof. Ich möchte nach Hause fahren“

Paul versicherte sich noch einmal, ob meine Entscheidung final sei. Birte wurde nochmal gefragt, ob sie noch etwas dazu sagen möchte. Wollte sie nicht. Also suchten wir nach dem nächstgelegenen Bahnhof und packten die Taschen so um, dass ich mein Zeug direkt rausnehmen und in den Zug einsteigen könnte. Und dann wurde ich zum nächsten Bahnhof gebracht und weg war ich.

Und ich packte meine Tasche, meine Gedanken und meine Gefühle ein und begann, darüber nachzudenken, was hier eigentlich gerade passiert war.

Und darum geht es dann im nächsten und letzten Teil.


TEIL 5 – Reflektion und Entwicklung

Auf dieser Tour und in diesen drei Tagen (und noch vielen danach) dachte ich darüber nach, was auf dieser MUT-TOUR geschehen war. Ich sprach darüber mit Freunden. Ich sprach darüber in meiner Selbsthilfegruppe. Ich sprach darüber mit meiner Therapeutin. Und vor allen Dingen Letztere formulierte einen Gedanken sehr klar, der mir zuvor schon latent im Kopf herumgewabert war, bis dahin aber einfach keine Gestalt angenommen hatte. Sie formte diese Gedanken zu einer sehr klaren Aussage: „was erwarten Sie denn, wenn Sie mit Depressiven zusammenarbeiten? Die haben alle ihre Probleme und die nehmen sie meistens völlig unreflektiert mit auf so eine Tour. Aber Sie haben Therapie gemacht. Sie haben das alles reflektiert und Sie haben inzwischen eben gelernt, Grenzen zu setzen und bestimmte Dinge nicht mehr zu akzeptieren. Ist doch klar, dass das irgendwann knallt.“

Meine Freunde ergänzten diesen Gedanken noch um einen weiteren: „ich bin echt beeindruckt davon, dass Du das so lange ausgehalten hast. Ich wäre wahrscheinlich am ersten Tag schon wieder heimgefahren. So geht man doch nicht mit Menschen um“

Klare Botschaften und ständiges Hinterfragen

Trotzdem hinterfrage ich mich bis heute, ob ich nicht irgendwo irgendetwas hätte besser machen können. Ich denke darüber nach, ob ich Dinge vielleicht selektiv und verzerrt wahrgenommen habe. Und sage mir dann immer wieder, dass da Dinge passiert sind, bei denen es schwer ist, eine selektive Wahrnehmung anzusetzen. Weil sie eben objektiv erfahrbar sind. Weil eine Nachricht wie „(wann) soll ich Dich abholen?“ und ein Nicht-Erscheinen am Bahnhof eben keine zwei Betrachtungen zulassen. Wie so vieles andere danach eben auch.

Und trotzdem habe ich mich lange mit der Frage gequält (und tue es bis heute), wieso es mir so schwer fällt, mit anderen zusammenzuarbeiten. Es fühlte sich alles wieder genauso an wie die Situationen, in denen ich gekündigt wurde. Wie noch weitere Situationen, die kommen würden und andere, die schon hinter mir lagen.

Bin ich einfach ein schwieriger Mensch?

Und immer und immer wieder bleibt der Gedanke hängen „ich bin halt einfach ein schwieriger Mensch“. Ein Gedanke, den ich ja von frühester Kindheit an von meinen Eltern mitbekommen habe.

Der dann auch weiter genährt wird, wenn ich hier und da mit der MUT-TOUR in Kontakt komme und höre, wie toll das Projekt für viele Menschen sei und wie sehr sie damit anderen helfen würden. Bei mir bleibt dabei immer hängen, dass ich schon ein arg komischer Mensch sein muss, wenn so etwas Wunderbares mir eben nicht hilft, sondern mir sogar schadet. Wie bei meiner Familie eben auch. Das Problem scheine ich zu sein. Und das schmerzt.

Seltsam und schwierig dabei ist und bleibt, dass mir die Menschen in meiner Umgebung beständig Recht geben. Teilweise sogar sehr eindeutig und radikal. Aber die waren ja nicht dabei, sage ich mir dann auch immer wieder. Das wiederum nährt dann den Zweifel, dass ich Dinge falsch wahrgenommen haben könnte, Erinnerungen zu meinem „Vorteil“ auslege oder anderweitig dafür sorge, dass man mir Recht gibt und die anderen verurteilt. Ein Gedanke (oder Glaubenssatz), den ja auch meine Familie beständig nährt.

Ich weiß nicht, was „die Wahrheit“ ist und wahrscheinlich werde ich das nie abschließend beurteilen können.

Ständige Selbstzweifel arbeiten weiter

Vielleicht ist es wirklich so, dass einfach irgendetwas mit mir falsch ist und ich einfach nicht mit Menschen arbeiten kann und sollte. Vielleicht muss ich das einfach irgendwann akzeptieren. Vielleicht ist es auch so, dass ich einfach sehr gut weiß, wo meine Grenzen sind und es – mitunter auch mit einer enormen Konsequenz – nicht akzeptiere, wenn die überschritten werden. Vielleicht ist es wahr, dass Depressive, die ihre eigenen Themen nicht reflektieren, dazu neigen, genau diese Grenzen immer und immer wieder zu übertreten und es deswegen immer wieder zu Trigger-Situationen kommt. Vielleicht würde ich weniger zweifeln, wenn ich einfach selbst ab und an die Grenzen anderer übertreten würde, anstatt mich im Glauben zu üben, rücksichtsvoll zu sein und lieber immer wieder zurückzustecken. Bis es halt irgendwann reicht.

Was ich für mich auf jeden Fall gelernt habe, ist, dass ich seither zwei Mal hinterfrage, welchen Herausforderungen ich mich tatsächlich stellen will. Inwiefern ich mit anderen Menschen zusammenarbeiten möchte und inwiefern ich vielleicht lieber für mich bleiben sollte. Ich werde diesbezüglich auch noch mit der Deutschen Depressionsliga und mit der Aktion Zivilcourage meine Geschichten erleben. Ich werde wieder und wieder denken, dass ich doch eigentlich wunderbar dazu passe, mich einbringen, davon ausgehen, dass ich einen Mehrwert stifte und am Ende werde ich doch überall wieder ausgestoßen werden.

Ist „ausgestoßen werden“ einfach mein Standard-Zustand?

Möglicherweise ist das ein Zustand, den ich selbst immer wieder herstelle. Weil ich so geprägt wurde, dass es mein Ursprungszustand ist, nicht dazu zu gehören und ich immer wieder unbewusst dafür sorge, dass der bestätigt wird. Ich muss aufrühren.

Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich das wirklich ändern will. Denn alles, was zu diesem Zustand führt, sind ja letztlich Dinge oder sogar Werte, von denen ich im tiefsten Inneren überzeugt bin. Objektiv, rational und nachvollziehbar. Zumindest fühlen sie sich so an.

Vielleicht bilde ich mir das aber auch ein und lebe in einer Wahnwelt, in der ich mir einfach ständig nur selbst schade, weil ich unbedingt Recht haben will. Genau deswegen aber berichte ich davon. Vielleicht hilft es ja irgendwann irgendwie irgendwem, seine eigenen Grenzen zu reflektieren und sich selbst zu schützen.

Warum es diese Erlebnisberichte gibt

Auf jeden Fall möchte ich mit diesen Erlebnisberichten dazu anregen, dass wir darüber sprechen, dass es nicht nur die „Krankheit Depression“ ist, die uns Sorgen bereiten sollte. Vielmehr ist es das, was dahinter und davor liegt: der Umgang miteinander, der Umgang in Gruppen, der Umgang in Familien, der Respekt voreinander und die eigenen Grenzen. Darum habe ich das Rucksack-Modell entwickelt, darum habe ich darüber geschrieben, dass die singuläre Betrachtung von Depressionen als Krankheit schädlich sein kann. Und ich habe versucht, intensiv zu reflektieren, wieso in meiner Welt offenbar immer die anderen schuld sind.

Was am Ende immer bleibt: wir alle müssen unseren eigenen Weg finden, mit dem umzugehen, was wir erlebt haben. Auf Basis unserer eigenen Geschichte. Aber vor allen Dingen auf Basis unserer eigenen Werte und Vorstellungen. Für unser Verhalten und seine Konsequenzen müssen wir dann aber auch bereit sein, die Verantwortung zu übernehmen und unser Verhalten zu reflektieren. Spätestens wenn wir merken, dass wir anderen gegenüber unfair agieren oder ihnen sogar schaden.

Die MUT-TOUR als Organisation tut das: die Regel, dass Pärchen nicht auf einem Tandem fahren dürfen, wurde dahingehend ausgeweitet, dass nicht nur Pärchen, sondern auch Freunde oder Verwandte nicht mehr gemeinsam auf eine Etappe gehen dürfen. Um die Gruppendynamik nicht zu beeinflussen. Zudem gibt es für jeden neuen MUT-TOUR-Teilnehmenden die Pflicht, an einem Mitmach-Wochenende im Vorfeld teilzunehmen, um dort zu erfahren, ob das Konzept für einen selbst trägt.

Diese Reflektion ist gut. Sie ist das, was wir brauchen, um diese Welt für alle lebenswerter zu gestalten. Als Organisation genau so wie als Einzelperson.

Jede*r von uns hat Steine im Rucksack.