
Mir kommt es häufig so vor, als würden Depressionen in unserer Gesellschaft als etwas betrachtet werden, an dem Menschen einfach aus heiterem Himmel erkranken. Als eine Krankheit oder ein Zustand, gegen den man vollkommen wehrlos ist, der nicht veränderbar ist und den man letztlich einfach nur aushalten kann und muss und den man höchstens erträglicher gestalten, aber niemals ganz loswerden kann.
Ich halte das für falsch. Ich bin überzeugt davon, dass jede Depression erklärbare Ursachen hat und dass man mit einem gezielten Arbeiten an genau diesen Ursachen auch für eine wesentliche Verbesserung der eigenen Situation sorgen kann.
Dafür aber braucht es zunächst ein Verständnis für die Ursachen. Denn in diesen Ursachen liegt der Schlüssel zur Heilung. Nur wenn ich weiß, woher etwas kommt, kann ich mir auch überlegen, wie ich daran arbeiten möchte.
Um zu einem besseren Verständnis dieser komplexen Thematik beizutragen, habe ich im Laufe meiner eigenen Therapie das Rucksack-Modell entwickelt.
Es ist zum Einen eine Weiterentwicklung eines Modells, das mir meine Therapeutin mitgegeben hat, bei dem wir aber beide nicht auf die Quelle gekommen sind (es ging um ein Schiff, dessen Beladung, den Schiffskiel und die durchfahrenen Gewässer) und zum Anderen eine Angleichung dieses Modells an das von mir häufiger verwendete Bild von „Steinen im Rucksack“ im Bezug auf erfahrene Traumata.
Und dieses Modell geht so:
Das Rucksack-Modell
Jeder Mensch wird mit unterschiedlichen Grundvoraussetzungen geboren. Manche haben leichte Knochen, die bei der geringsten Belastung brechen. Andere schauen ein Stück Kuchen an und werden sofort dick. Wieder andere sind schon in jungen Jahren unheimlich geschickt beim Sport, überflügeln ihre Klassenkameraden auf dem Weg zum Bundesliga-Fußballer und dribbeln auf dem Weg dorthin reihenweise Menschen aus, die mit zwei linken Füßen auf die Welt gekommen sind.
Genauso wie wir mit unterschiedlichen körperlichen Vorbedingungen auf die Welt kommen, kommen wir auch mit unterschiedlichen mentalen Vorbedingungen auf die Welt. Der eine kann schon als Dreijähriger rechnen und vorlesen, wohingegen es anderen bis ins Teenager-Alter schwer fällt, sich aus Buchstaben oder Zahlen einen Reim zu machen. Manche lernen Sprachen, als gäbe es nichts Einfacheres auf der Welt und andere haben ihr Leben lang Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen „das“ und „dass“ zu verstehen. Und manchen Menschen scheint von Anfang gefühlt die Sonne aus dem Allerwertesten, wohingegen andere eher dazu neigen, dem Alltag voller Sorgen zu begegnen.
Unser mentales Vermögen ist genauso wie unsere Geschicklichkeit, unsere Muskeln und unsere Intelligenz etwas, bei dem wir eine gewisse Basis mitbekommen. Durch unsere Gene, durch organische Vorbedingungen und damit am Ende ein Stück weit durch Zufall.
Diese Vorbedingungen sind aber kein lebenslanges und unveränderliches Urteil. Genau darum gibt es eben auch diese Geschichten von Kindern mit zwei linken Füßen, die aber durch viel Trainingsfleiß am Ende eben doch noch zum Bundesliga-Kicker wurden. Anderen bringen massives Talent mit und scheitern dann aber am täglichen Training oder wieder anderen Einflussfaktoren. Es ist dennoch wichtig zu verstehen, dass es Unterschiede in den Ausgangsbedingungen gibt.
Für diese Ausgangsbedingungen, dieses mentale Vermögen, für das wir alle einen Grundzustand mitbekommen, steht im Rucksack-Modell symbolisch der Körper, mit dem wir durchs Leben gehen. Eine schwache mentale Vorbedingung ist dabei beispielhaft ein schwacher, gebrechlicher Körper und eine starke mentale Vorbedingung entsprechend ein starker Körper. Mit diesem Körper wandern wir durch unser Leben.

Dabei haben wir einen Rucksack auf. In diesem Rucksack befinden sich die Dinge, die uns in unserem Leben mitgegeben werden. Das können hilfreiche Werkzeuge wie Landkarten, Vesperbrot und Kompass sein. Es können aber auch Steine sein, die uns aus dem Gleichgewicht bringen. Traumata, die wir in unserem Rucksack mit uns herumtragen müssen. Und je früher wir diese erlebt haben, also je früher uns diese Steine da hineingepackt wurden, desto tiefer liegen sie in unserem Rucksack.
Ein starker Körper (also ein starker Geist) kommt dabei auch mit einem schweren Rucksack klar. Ein gebrechlicher Körper aber wird bereits durch einen vergleichsweise leichten Rucksack aus dem Gleichgewicht zu bringen sein.
Mit diesem Körper und diesem Rucksack wandern wir alle über die Straßen des Lebens. Die Straßen, über die wir uns bewegen, wählen wir dabei selbst. Manchmal bewusster und manchmal unbewusster. Manche Straßen sind glatt asphaltiert und bieten uns guten Halt. Andere haben gefährliche Kurven, Schlaglöcher und eine unübersichtliche Wegführung.

Wenn wir uns mit einem schweren Rucksack und einem gebrechlichen Körper auf einer Straße fortbewegen, die viele Hindernisse aufweist, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir irgendwann ins Stolpern geraten. Mit einem starken Körper und einem gut ausgestatteten Rucksack hingegen werden wir wahrscheinlich auch auf noch so unwegbarem Gelände gut vorankommen.
Die Straßen, die wir entlang gehen, stehen symbolisch für die Entscheidungen, die wir im Leben treffen. Das kann die Arbeitsstelle sein, das kann die Wohnung oder das Viertel sein, in dem wir wohnen, es kann die Wahl unserer Urlaubsorte sein, die Gedanken, was wir mit unserem Geld machen und noch so viel mehr, was wir in unserem Alltag bewusst und unbewusst entscheiden.
Oft sind dabei gerade die unbewussten Entscheidungen die Interessantesten. Sich bewusst zu machen, wie viele Dinge im Leben tatsächlich von eigenen Entscheidungen abhängen, kann enorm befreiend sein. Darum geht es auch im Buch „Die Entscheidung liegt bei Dir“ von Reinhard Sprenger. Einige Entscheidungen für unwegsames Gelände können dabei auch von den Steinen in unserem Rucksack beeinflusst sein. Weil sie es uns schwer machen, die Landkarte raus zu kramen, um uns zu orientieren. Weil wir vielleicht gar keine Landkarte mitbekommen haben und viele Wege gar nicht kennen. Oder weil sie uns immer wieder in eine bestimmte Richtung ziehen, ohne, dass wir das mitbekommen. Gerade darum ist es wichtig, sich über die Straßen des Lebens bewusst zu werden. Aktiv mitzuerleben, welche Entscheidungen man selbst in der Hand hat und welche Konsequenzen diese Entscheidungen haben. Denn die Beschaffenheit der Wege ist ein zentrales Kriterium dabei, ob wir ins Stolpern kommen oder aufrecht und glücklich durchs Leben gehen können.
Und dann ist es natürlich auch ganz entscheidend, wer diesen Weg mit uns geht. Haben wir Menschen an unserer Seite, die uns stützen, die von außen betrachten können, welche Wege wir wählen und uns auch mal eine andere Route aufzeigen können und die uns unseren Rucksack in schweren Zeiten auch mal abnehmen können. Oder wandern wir mit Menschen durchs Leben, die uns immer wieder Stöcke zwischen die Beine werfen und eher an unserem Rucksack ziehen oder uns sogar die Beine wegtreten und damit dazu beitragen, uns immer wieder ins Stolpern zu bringen.
Diese vier Aspekte sind die Grundlage unserer gesamten mentalen Gesundheit: die genetischen und organischen Vorbedingungen (der Körper), die tiefgreifenden Erfahrungen in unserem Leben (der Rucksack), die Entscheidungen, die wir treffen (die Straßen und Wege) und die Menschen, mit denen wir den Weg entlang gehen (unsere Gesellschaft).
Erkennen, was ist: das Zusammenspiel der vier Faktoren
Genauso wie jeder Mensch, jedes Leben und jeder Weg ganz individuell und verschieden ist, so ist auch das Zusammenspiel zwischen allen vier Faktoren dieses Modells bei jedem Menschen einzigartig.
Manche Menschen werden mit einer grandiosen körperlichen Grundkonstitution geboren und verlieren nie ihre Zuversicht – auch wenn ihnen noch so viele Schicksalsschläge widerfahren. Andere straucheln auf ihrem Weg immer wieder – manche, weil sie es sich mit der Wahl ihrer Straße immer wieder schwer machen, andere, weil sie einen enormen Rucksack mit sich herumtragen und wieder andere, weil sie sich immer wieder Menschen an die Seite holen, die ihnen das Wandern verleiden.
Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, aus welchem Grund man strauchelt, wenn man das Gleichgewicht verliert. Denn nur wenn klar ist, was die Ursache dafür ist, dass man aus dem Tritt kommt, hat man eine realistische Chance darauf, echte und nachhaltige Veränderung zum Besseren zu erwirken.
In den seltensten Fällen aber ist es ein einzelner, abgrenzbarer Faktor, der raumgreifend für alle Schwierigkeiten im Leben verantwortlich ist. Häufig spielen die vier Faktoren zusammen. Denn die Wege, die wir entlang gehen, beeinflussen in hohem Maße, welche Menschen wir dabei treffen. Die Wahl unserer Arbeitsstelle beispielsweise gibt uns Kolleginnen und Kollegen an die Hand, die wir sonst wahrscheinlich nicht kennengelernt hätten. Die Wahl unserer Urlaubsorte verschafft uns Bekanntschaften, die wir zuhause wohl nicht gemacht hätte. Und die Entscheidung dafür, einfach nirgendwohin zu gehen, wird dafür sorgen, dass wir niemanden kennenlernen. Und so lässt sich das eine schwerlich vom anderen trennen. Es ist aber wichtig, den Einfluss des einen auf das andere zu verstehen, um zu eruieren, wo die Ursache für was liegen könnte.
Genauso kann uns die Ausrüstung unseres Rucksacks dabei helfen, die passenden Straßen in unserem Leben zu finden. Sie kann aber auch dazu führen, dass uns falsche Ziele vorgegaukelt werden und wir daher immer wieder falsch abbiegen oder uns auf Menschen einlassen, die uns nicht gut tun. Je nachdem, ob unser Rucksack hilfreiche Dinge enthält oder wir falsch gezeichnete Karten mit uns führen. Oder ob unser Rucksack ganz viele lose Fäden hat, an denen gemeine Menschen gerne ziehen, um uns ins Stolpern zu bringen oder ob er ein paar Haken hat, an denen andere Menschen zugreifen und uns beim Tragen helfen können. Und auch da ist es wichtig, sich klarzumachen, wie die Dinge zusammenhängen und wo wir ansetzen können und wollen.
Gezielt bearbeiten
Für jeden der vier Bereiche gibt es dann unterschiedliche Möglichkeiten, dem entgegenzutreten und bewusst eine Veränderung herbeizuführen.
Den Rucksack abzunehmen und auszusortieren, ist wahrscheinlich die gewaltigste Aufgabe. Das geschieht üblicherweise im Rahmen einer analytischen Psychotherapie und kostet eine Menge Zeit und eine Menge Kraft, denn dabei wird alles in Frage gestellt, woran man bisher geglaubt hat. Ein solcher Schritt kann zu einer jahrelangen Auseinandersetzung mit sich selbst und den bisher immer für wahr gehaltenen Glaubenssätzen führen. Das kann sehr heilsam sein. Es kann aber – gerade am Anfang – auch sehr belastend sein. Es ist ein wenig wie der Knochen, den man bricht, damit er wieder gerade zusammenwachsen kann.
Dessen sollte man sich bewusst sein. Eine Psychoanalyse ist belastend. Den Rucksack abzusetzen, an den man sich sein Leben lang gewöhnt hat, ist anstrengend. Und wenn man gerade ohnehin allein über eine steinige Straße wandert, dann sollte man sich zwei Mal überlegen, ob das wirklich der richtige Zeitpunkt für so grundsätzliche Vorhaben ist oder ob es nicht erstmal wichtiger wäre, einen stabilen Untergrund zu finden und vielleicht auch ein paar stabile Beziehungen zu haben.
Und die Wegeplanung, also die Straßen, auf denen man läuft und zukünftig laufen möchte, wird üblicherweise im Rahmen einer Verhaltenstherapie betrachtet. Welche Entscheidungen hat man getroffen und trifft man vielleicht sogar täglich neu, in welchen Zwängen sieht man sich gerade, was kann man tun, um sich das Leben angenehmer zu gestalten und welche Werkzeuge benötigt man dafür vielleicht noch. Die Verhaltenstherapie ist eine mächtige Methode, um das Alltagsleben besser bewältigen zu können und damit ein stabiles Fundament zu schaffen, also: sich auf Wegen fortzubewegen, die man mit der eigenen Ausrüstung gut meistern kann.
Manchmal findet sich dieses Fundament aber auch in den sozialen Beziehungen. Manchmal können Freunde, Partner oder Verwandte viel Entscheidungshilfe geben. Manchmal tun sie auch genau das Gegenteil. Im Rahmen von Psychotherapien kann auch auf soziale Beziehungen nochmal ein differenzierterer und neutraler Blick geworfen werden. Das kann auch dazu beitragen, dass bisher stabil geglaubte Beziehungen sich als dysfunktional herausstellen und gründlich überprüft werden sollten. Denn man kann die Wege noch so gut planen und den Rucksack noch so leicht machen – wenn man immer jemanden an der Seite hat, der einem bei jedem Schritt die Beine weg tritt, dann wird es schwer, vorwärts zu kommen, ohne zu stolpern.
Zu guter Letzt bliebt dann der Körper beziehungsweise die grundsätzliche mentale Stabilität. Und die kann – eben genau wie ein Körper – durch gezieltes Training resistenter gemacht werden. Das können Achtsamkeitsübungen sein, das kann Meditation sein, das ist aber auch alles, was wir zu uns nehmen und womit wir uns entsprechend ernähren. Und natürlich können das dann auch Medikamente sein. Genauso wie wir unseren Körper mit Ausdauertraining, Fitness und Ernährung gestalten, gestalten wir auch unseren Geist. Und genauso wie wir auf Verletzungen des Körpers manchmal Entzündungscremes auftragen oder eine Schmerztablette nehmen, gibt es auch Medizin, die unserer mentalen Gesundheit zuträglich sein kann. Wir sollten uns nur immer bewusst machen, wieso und was wir tun und die Konsequenzen im Blick haben.
Was wir jetzt tun können: bewusst(er) handeln
Und das steckt bei diesem ganzen Modell sowieso in allem: Bewusstsein darüber erlangen, was wir erleben, wieso wir das erleben, woher das kommt, welche Querbeziehungen es hat und was wir tun können.
Wenn wir uns das bewusst machen, können wir uns überlegen, was wir tun können und uns ein Set an Methoden zulegen, mit dem wir arbeiten möchten. Das kann eine spezifische Therapie sein. Das kann aber auch sein, dass wir uns vornehmen, an bestimmten, einzelnen Themen zu arbeiten. Dass wir nach einem neuen Job suchen. Dass wir uns genauer überlegen, wie und wo wir wohnen wollen. Oder dass wir das viel zu große Auto verkaufen, um Kapital für etwas anderes freizumachen. Es kann das Aufnehmen eines neuen Hobbys sein, es kann ein Workshop sein, der uns die Angst nimmt, auf Menschen zuzugehen, es kann die Selbsthilfegruppe sein, in der wir Kraft daraus schöpfen, zu bemerken, dass wir mit all dem nicht allein sind und vielleicht neue Inspiration gewinnen.
Wichtig bei all dem ist: erkennen, wie viele Möglichkeiten es gibt, an den unterschiedlichsten Dingen zu arbeiten. Nachdem wir erkannt haben, woran wir überhaupt arbeiten möchten. Und dann mit Demut an all diese Aufgabenstellungen herangehen.
Nichts von alldem wird all unsere Probleme lösen. Nur weil wir eine Therapie machen, heißt das nicht, dass wir hinterher gesund sind. Genausowenig wie uns der eine Heiler versprechen kann, dass sich nach einer Sitzung mit ihm alle Probleme in Wohlgefallen auflösen. Ohnehin halte ich es für einen gefährlichen Irrglauben, die Verantwortung für die eigene Heilung vollständig auf jemand anderen zu übertragen.
Unser Leben, unsere Geschichte, unser Rucksack und unsere Wege sind für jeden von uns eine ständige Herausforderung. Diese Herausforderung ist ein großer Teil dessen, was unser Leben ausmacht. Wir können, wir dürfen, wir müssen dieses Leben gestalten. Mit all den kleinen und großen Schritten, die es dazu braucht. Aber auch mit der Selbstverantwortung, die dafür nötig ist. Wir wählen, was wir tun. Und wir können unsere Entscheidungen reflektieren. Manches wird besser funktionieren, anderes weniger. Und darüber können wir angleichen, ändern, ausprobieren und neu auswählen, was wir tun möchten und wie. Aber je bewusster wir wählen, je zielgerichteter wir arbeiten, desto leichter wird es uns am Ende fallen.
Und ich hoffe, dass dieses Modell dazu einen Beitrag leisten kann.