Steine auf einem Feld und darüber der Text "Depressionen sind (k)eine Krankheit!"

Ich habe lange nicht verstanden, warum Organisationen wie das Bündnis gegen Depression und die Depressionsliga nicht mit mir zusammenarbeiten wollen – obwohl ich hier wirklich viel versucht habe. Ich hatte dahingehend schon lange eine sehr starken Verdacht, der heute dann auch durch ChatGPT genährt bzw. bestätigt wurde: ich liefere einfach nicht das bequeme Bild, das sie gerne erzählen. Nämlich, dass Depressionen eine Krankheit sind, die uns aus dem Nichts befällt. Und nicht, dass sie meistens ein komplexes Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren sind.

In nächster Zeit werde ich über diese Erfahrungen genauer berichten und erzählen, was ich bei und mit diesen Organisationen erlebt habe.

Heute möchte ich darlegen, warum das ein Problem ist. Und zwar, weil die einseitige Betrachtung von Depressionen als Krankheit in letzter Instanz dazu führt, dass Betroffene nie lernen, die wirklichen Ursachen ernsthaft aufzuarbeiten. Weil die Diskussion meistens einfach damit aufhört, dass man krank ist. Dieser Ansatz verhindert damit, dass wir als Gesellschaft wirklich verstehen lernen, wie Depressionen entstehen, welchen Anteil wir selbst daran haben und wie wir nachhaltig gesund damit umgehen lernen könnten.

Dass Depressionen eine Krankheit sind, steht im Zentrum vieler Initiativen, die sich in diesem Umfeld bewegen. Das halte ich für schädlich. Und zwar, weil es Menschen eine Entschuldigung dafür gibt, einen wirklichen und schmerzhaften Blick auf die echten Hintergründe zu werfen. Und weil es der Gesellschaft eine einfache Lösung für ein viel zu komplexes Problem gibt.

Seit ich meine eigene Depression aufgearbeitet habe und damit viele Dinge ans Licht der Öffentlichkeit gebracht habe, die für andere überfordernd, schwer einzugestehen oder schlicht unangenehm waren, erfahre ich Ausgrenzung. Von meiner Familie, die einfach behauptet, das würde alles nicht stimmen. Oder dass man immer zwei Seiten betrachten müsste. Oder dass ich eben ein aggressiver Störenfried sei und selbst daran schuld, dass wir nicht friedlich Weihnachten zusammen feiern können.

Und von öffentlichen Institutionen, für die das Thema ganz offenbar zu komplex oder zu anstrengend ist. Oder weil da eben selbst Menschen drin sitzen, denen es unangenehm ist, genauer hinzuschauen und die ganz froh darüber sind, dass sie mit einem Krankheits-Sticker eine Entschuldigung für das eigene Fehlverhalten bekommen.

Würde ich mich hingegen hinstellen und sagen, dass festgestellt wurde, dass ich einfach etwas krank im Kopf bin und da irgendwas schief gepolt ist, dann wäre ich wahrscheinlich ein akzeptierter Teil meiner Familie, könnte auf Bühnen der Depressionsliga und des Bündnisses gegen Depression stehen und mir Anerkennung und Mitleid für meinen Umgang mit der Krankheit abholen und müsste nicht als verzweifelter Einzelkämpfer das unglaublich schmerzhafte Gefühl haben, als würde ich irgendeinen Blödsinn erzählen und als wollte mir keiner zuhören.

Das kann doch nicht sein.

Erstmal vorneweg: es ist wichtig, dass wir Depressionen als Krankheit ansehen. Denn das führt dazu, dass ein Arzt auf Basis einer Diagnose Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen ausstellen kann, dass Therapien und Medikamente verschrieben werden können, dass gesellschaftliche Unterstützung in Anspruch genommen werden kann und das ist und das bleibt: enorm wichtig!

Wenn wir da aber stehenbleiben, dann lösen wir nichts wirklich, sondern dann kleben wir immer nur ein Pflaster auf eine Wunde, die darunter aber weiter vor sich hin eitert und fault.

Es ist wichtig, dass wir Depressionen als Krankheit ansehen. Aber das alleine ist zu wenig.

Depressionen kommen nicht aus heiterem Himmel. Sie entstehen, weil sich Prägungen aus unserer Kindheit plötzlich und unerwartet Bahn brechen. Oder, weil wir uns in eine Situation manövriert haben, aus der wir keinen Ausweg mehr sehen. Manchmal auch aus hormonellen Veränderungen. Oder eben wirklich, weil da schon immer irgendwo ein Ungleichgewicht war. Meistens aber aus einer Kombination aus all dem. Einer Kombination, die oft nicht auf den ersten Blick durchschaubar und schon gar nicht mit einem Schlag lösbar ist. Umso wichtiger ist es aber, auf diese Kombination zu schauen und sich nicht damit zufrieden zu geben, dass man von einer Krankheit befallen ist und „eben etwas anders tickt“.

Denn das tut nur eines: es liefert eine Entschuldigung. Für das eigene Verhalten. Für einen selbst. Vor allen Dingen aber für die Menschen, die einem diese Prägungen mitgegeben haben. Die Gesellschaft. Die Partner. Und in den allermeisten Fällen die eigene Familie. All diese Menschen aber sollte man in Verantwortung nehmen. Man sollte sie zum Nachdenken darüber bringen, welche Konsequenzen ihr Verhalten hatte und hat und wie man die leidvollen Konsequenzen dieses Verhaltens in Zukunft vermeiden oder zumindest lindern kann.

Ich habe den Missbrauch durch meine Mutter, die lieblose Erziehung und die bis heute andauernde Verleugnung meines Vaters, die Misshandlung durch meine Stiefmutter und die chaotischen und narzisstischen Verhältnisse in meiner unmittelbaren Umgebung aufgeschrieben und deutlich gemacht. Ich halte sie bis heute für die zentrale Ursache meiner Leiden. Und die Ursache dafür, dass ich auch anderen Menschen Leid zugefügt habe. Indem ich selbst chaotische Verhältnisse gesucht und narzisstische und missbräuchliche Verhaltensweisen an den Tag gelegt habe. Es tut weh, sich selbst einzugestehen, dass einem nahe stehenden Menschen so etwas angetan haben. Es tut noch mehr weh, sich einzugestehen, dass man selbst so gehandelt hat.

Einfacher wäre es natürlich gewesen, wenn ich einfach hätte sagen können: „in meinem Kopf ist etwas falsch“. Dann wären alle Untaten im Dunkeln geblieben und die teilweise unfassbaren und einfach unmöglichen Lügengeschichten meiner Familie hätten überlebt. Genauso wie mein eigenes Fehlverhalten.

So habe ich das bei vielen anderen „Depressions-Erkrankten“ gesehen. Dort wurde nichts aufgearbeitet, der „Kranke“ war eben „krank“ und irgendwann wieder halbwegs gesund, die Diskriminierungen hielten mal offener und mal verdeckter weiter an, das eigene Verhalten wurde nicht überprüft und einfach weiter durchgezogen, nur eben jetzt mit einer gesellschaftlich akzeptierten Entschuldigung für die eigenen Fehlbarkeiten und irgendwann krachte dann halt wieder alles zusammen. Ob bei den „Erkrankten“ selbst, im Konflikt mit ihren Partnern oder in der Beziehung zu ihren Kindern. Es war meistens nur die Frage nach dem „wann“ und nicht nach dem „ob“. Und das wurde dann eben als „Remission der Krankheit“ bezeichnet oder es lieferte einen Beweis dafür, dass Depressionen erblich bedingt seien. Aber vor allen Dingen bewies es eines: Depressionen sind unheilbar. Und wenn etwas nicht heilbar ist, dann hat man selbst ja auch keinen Anlass, irgendetwas dafür oder dagegen zu tun. Dann „ist man eben so“.

Die viel logischere Erklärung wäre in meinen Augen hingegen, dass schädliches Verhalten weitergegeben wird und zu neuem schädlichen Verhalten im Gegenüber führt, wenn man es nicht behandelt und ändert. Das aber ist anstrengend. Denn das würde ja bedeuten, dass man das eigene Verhalten und das Verhalten nahestehender Menschen einer Prüfung unterziehen müsste. Und die kann weh tun.

Entsprechend ist es viel bequemer, sich einem Krankheits-Narrativ anzuhängen als Ursachen oder anhaltende Verhaltensweisen zu analysieren. Denn Letzteres bedeutet Arbeit. Bei sich und anderen. Das ist unbequem. Eine einfache Krankheit als Ursache entledigt einen von all dieser mühsamen Arbeit. Vor allem aber tut sie eines: sie schützt Täter und erhält schädliches Verhalten.

In meinen Augen brauchen wir einen intelligenteren Umgang mit Depressionen als diesen. Wir brauchen eine intensivere Auseinandersetzung mit den wirklichen Ursachen von Depressionen. Einen Blick, der weiter geht als der bloße Krankheits-Blick. Eine Bereitschaft dafür, offen über die Entstehungsbedingungen und Ursachen von Depressionen zu sprechen – auch wenn das anderen und einem selbst weh tut, weil es unbequeme Wahrheiten zu tage fördert, die manche lieber tot schweigen würden.

Das bequeme Krankheitsmodell schützt Täter – und schadet denen, die den Finger in die Wunde legen

Das versuche ich. Ich versuche es, indem ich meine Geschichte öffentlich erzähle. Ich versuche es, indem ich das Rucksack-Modell * entwickelt habe und darüber einen greifbaren Ansatz liefere, auf dessen Basis eine solche Diskussion beginnen könnte. Und noch so vieles mehr.

Dafür bekomme ich aber: verschlossene Türen, Absagen zur Zusammenarbeit von der Deutschen Depressionsliga und dem Bündnis gegen Depression, keine Verlagszusammenarbeit für mein Buch, eine überschaubare Zahl an Medienberichterstattung, Ausgrenzung von meiner Familie und eine fortlaufende Frustration, wenn ich sehe, dass Menschen, die einfach nur von ihrer Krankheit erzählen, einen Freifahrtschein für gesellschaftlich eigentlich komplett inakzeptables Verhalten bekommen und all das an Unterstützung und Öffentlichkeit erhalten, was ich mir schon lange wünschen würde.

Ich bin glücklicherweise inzwischen weit davon entfernt, in Suizid-Gedanken abzurutschen. Aber fortlaufend das Gefühl zu bekommen, mit einer fassbaren und logischen Erklärung zu scheitern und ausgegrenzt zu werden, während andere für diskriminierendes und respektloses Verhalten und eine viel zu einfache Erklärung anhaltenden Applaus bekommen – das nährt das Gefühl, nicht in diese Welt zu passen. Ein Gefühl, das ich schon mein ganzes Leben lang kenne und das ich wahrscheinlich nie mehr los werde. Das aber keine Krankheit im Kopf ist, sondern eine logisch nachvollziehbare Reaktion meines Geistes auf das, was man mir angetan hat. Mit der ich leben könnte, wenn wir als Gesellschaft offen darüber sprechen würden und ich für diesen ewigen Kampf auch etwas Anerkennung bekommen würde. Wenn ich aber erlebe, dass mich die eigene Aufarbeitung und die damit verbundene Klarheit ausgrenzt und eben eher die Applaus bekommen, die irgendwas von einer Krankheit erzählen, aber nichts wirklich an sich, ihren toxischen Beziehungen oder ihrem eigenen Verhalten ändern, dann tut das einfach nur weh.

Ich wünsche mir, dass ich noch erleben darf, dass wir das besser hinbekommen.

* Das Rucksack-Modell ist ein Erklärungsansatz, den ich entwickelt habe, um zu zeigen, dass Depressionen und psychische Krisen selten aus dem Nichts entstehen. Es beschreibt, wie vier Faktoren – biologische Voraussetzungen, frühkindliche Prägungen, die aktuelle Lebenssituation und unser soziales Umfeld – zusammenwirken und unser seelisches Gleichgewicht beeinflussen.

Es ist dabei kein Ersatz für medizinische Hilfe, sondern ein Werkzeug, um die wahren Hintergründe zu verstehen, Verantwortung klar zu benennen und damit auch Veränderungspotenziale und Handlungsoptionen zu erkennen.