Vier Hände zeigen aufeinander – Symbol für gegenseitige Schuldzuweisungen

Wer mein Buch oder meine Blog-Beiträge liest, könnte schnell auf den Gedanken kommen, dass mich immer wieder eine Sache treibt: darzustellen, wie andere Schuld an meinem Unglück tragen und dabei ein ständiges Übersehen der eigenen Anteile.

Mit diesem Blog-Beitrag möchte ich diese Gedanken reflektieren. Vielleicht möchte ich mich auch rechtfertigen. Auf jeden Fall ist es mir ein Anliegen, einen Blick in das zu ermöglichen, was mich treibt und was hinter all dem steckt.

Fehler in Systemen aufzeigen – und meinen Anteil sehen

Mein Ziel ist es, Fehler in Systemen aufzuzeigen. Darzulegen, wo – in meinen Augen – Dinge falsch laufen und dabei auch einen Blick darauf zu richten, welche möglicherweise nicht sofort ersichtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben können.

Gleichzeitig ist mir bewusst, dass Menschen, die ihre eigenen Themen nicht vollständig bearbeitet haben, dazu tendieren, Fehler in den Systemen um sie herum zu suchen, um von den Unstimmigkeiten in sich selbst abzulenken.

Was das angeht, bin ich mir vollständig bewusst, dass meine Themen nicht abschließend bearbeitet sind. Ich weiß auch nicht, ob sie das jemals sein werden. Ich habe mich mit dem Gedanken angefreundet, dass ich – wie viele von uns – immer mit irgendetwas werde leben müssen. Dass es möglicherweise nie eine vollständige Heilung geben kann. Sondern immer nur ein Verbessern und Ändern dessen, was möglich ist und gleichzeitig eine sich fortentwickelnde Kompetenz im Erkennen und Aushalten, was sich nicht ändern lässt. Oder was einfach noch nicht an der Reihe ist, sich ändern zu dürfen.

Die Gefahr der Opfer-Rolle

Dieser Gedanke kann schnell zu einem Festhalten an der Opfer-Rolle führen. Und das wiederum bringt dann natürlich mit sich, dass man die Systeme um sich herum für das eigene Scheitern verantwortlich macht. Und damit wären wir wieder am Anfang und dem Punkt, dass ich all das möglicherweise nur tue, um wie ein Kind zu strampeln, das sich ungerecht behandelt fühlt und dabei alle mögliche Hilfe von mir wegstoßen.

Das aber war nie das Ziel meines Buches und ist auch nicht das Ziel meiner Blog-Beiträge. Es ist auch nicht, wie ich mich selbst sehe. In meinen Augen arbeite ich viel an mir auf verschiedene Weise. Manches davon funktioniert besser, anderes funktioniert weniger gut. Alles versuche ich daraufhin zu reflektieren, ob und wie es geholfen hat und was und wie ich weiter arbeiten könnte. Mit dem Ziel hoffentlich (bald) nicht mehr daran arbeiten zu müssen, sondern das Leben einfach genießen zu können. In vielen Bereichen kann ich das auch heute schon. In anderen ist noch etwas Arbeit nötig.

Fortschritt und Stolz

Mir ist aber bewusst, dass ich über die letzten Jahre sehr vieles erreicht habe: ich habe ein tiefes Verständnis dafür aufgebaut, was ich in Kindheit und Erziehung erfahren habe und wie das mein heutiges Erleben der Welt beeinflusst. Ich habe gelernt, mein eigenes Wertekonstrukt, meine Moralvorstellung und mein Verhältnis zu den Menschen um mich herum, wertzuschätzen, meine Handlungen daran auszurichten und mich immer wieder zu hinterfragen, ob meine Handlungen mit meinen Vorstellungen konsistent sind. Ich habe mir eine Selbständigkeit aufgebaut, in der ich nicht nur gutes Geld verdiene, sondern vor allem auch Anerkennung bekomme für meine Kompetenz und Wertschätzung für das, was ich einbringe. Und ich habe klare Vorstellungen davon, was ich in meinem Leben akzeptiere und was ich mir wünsche und was ich nicht akzeptiere und wovon ich mich distanziere. Ich bin mir meiner Kompetenzen und meiner Ängste, meiner Talente und meiner Schwächen sehr bewusst geworden – zumindest den Meisten. Und dass ich all das geschafft habe – darauf bin ich stolz.

Auf meinem Weg sind mir sehr viele hilfreiche Menschen und Institutionen begegnet. Ich habe sehr vieles über unser System gelernt. Ich habe allerdings auch vieles erst mühevoll in Erfahrung bringen müssen. Hatte es manchmal schwerer, als es in meinen Augen hätte sein müssen. Und diese Hindernisse würde ich gerne mildern oder sogar ganz beseitigen. Darum habe ich ein Buch über meine persönliche Aufarbeitung geschrieben, das Hilfsportal www.steine-im-rucksack.de aufgebaut und einige Zeit später den zugehörigen Verein gegründet. Weil ich ein Verständnis dafür schaffen möchte, dass wir alle „Steine im Rucksack“ haben und dass in meinen Augen ein besseres Verständnis für eben diese Steine und für Wege, sie zu bearbeiten, eminent wichtig ist für ein gesundes Leben und eine gesunde Gesellschaft. Darum möchte ich meine Erfahrung teilen und das, was ich auf diesem Weg gelernt habe, weitergeben. Und vielleicht auch dabei mithelfen, Dinge auf diesem Weg zu verbessern.

Systematische Hindernisse und ihre Wirkung

Während ich auf meinem Weg fraglos viel Hilfestellung erlebt habe, habe ich leider aber auch an vielen Stellen das genaue Gegenteil dessen erlebt. Ich habe erfahren müssen, dass es Stellen gibt, an denen das System in meinen Augen dysfunktional ist. Momente, die leicht dazu hätten führen können, dass ich auf meinem Weg ins Stolpern komme und heute nicht da stehen würde, wo ich stehe. Situationen, die ich durch meine eigene Stabilität erkennen, beurteilen und abwehren konnte, bei denen ich aber fürchte, dass Menschen, die diesen Situationen nicht auf derselben Entwicklungsstufe begegnen, davon verunsichert, eingeschüchtert, abgeschreckt und demotiviert werden können.

Genau so bin ich auch Menschen begegnet, die ihre eigenen Steine im Rucksack haben, diese aber ungefiltert und unreflektiert auf andere Menschen werfen. Weil sie ihre Depression nicht als etwas verstehen, an dem man grundständig arbeiten kann, sondern als eine Entschuldigung für ein respektloses und grenzüberschreitendes Verhalten gegenüber anderen.

Und auch das möchte ich präsent machen. Damit auch diese Erfahrungen ins Licht gerückt werden. Damit auch andere ihre Erfahrungen damit abgleichen können und sich gesehen fühlen. Damit wir darüber sprechen können. Und am Ende vielleicht bei der einen Sache zum Ergebnis kommen, dass es gut wäre, wenn es anders wäre. Und bei der anderen Sache muss ich vielleicht damit leben, dass das schlichtweg mein Problem ist und ich mich mal nicht so anstellen soll.

„Stell Dich nicht so an!“ <> „Doch! Ich stelle mich an!“

Da es aber genau dieser Satz ist („stell Dich nicht so an“), über den mir in der Therapie beigebracht wurde, hellhörig zu werden, mache ich genau das: ich stelle mich an. Ich meckere über Dinge, die ich für falsch halte. Ich stelle sie dar. Ich zeige meine Seite auf und ich merke meine Unzufriedenheit an.

Vielleicht nerve ich damit. Vielleicht triggere ich den ein oder anderen. Vielleicht fühlt sich irgendwer oder irgendwas im Gegenzug von mir ungerecht behandelt. Vielleicht nehmen mich Menschen als einen undankbaren Idioten wahr, der so unzufrieden mit sich selbst ist, dass er immer nur die Schuld bei anderen suchen will.

Ich akzeptiere das. Weil ich mich für stark genug halte, das auszuhalten. Und weil es mir (inzwischen) wichtiger ist, Dinge zur Sprache zu bringen und dafür das Risiko einzugehen, Prügel zu kassieren, als zu schweigen und weiter Dinge passieren zu lassen, die ich für falsch halte.

Nicht Schuld verteilen, sondern zum Nachdenken anregen

Ich mag nicht immer recht haben mit allem, was ich schreibe und darlege. Ich bin mir bewusst über meine eigenen Unzulänglichkeiten. Ich will aber nicht, dass die der Grund dafür sind, zu schweigen und eben nicht über das zu sprechen, was mich beschäftigt.

Ich will mich aber eben auch nicht einfach hinstellen und Schuld verteilen. Ich möchte aufzeigen, wo es Verbesserungsbedarf gibt. Darüber sprechen und so dazu anregen, über Veränderungen nachzudenken. Darum gibt es diesen Blog.

Und von meiner Seite aus gibt es ein ehrliches Interesse an allen möglichen Perspektiven. Auch und gerade an denen, die mir widersprechen. Lasst uns darüber sprechen, diskutieren, debattieren und vielleicht sogar streiten. Ich bin und bleibe dabei auch immer offen dafür, meine eigenen Anteile noch stärker zu reflektieren, als ich das ohnehin schon tue. Und wenn ich das nicht sein sollte, dann ist es vollkommen okay, mich daran zu erinnern.

Denn mein wichtigstes Anliegen ist und bleibt: dazu beitragen, allen (ALLEN) Seiten verständlich zu machen, welchen Anteil sie an welchen Konsequenzen haben und was sie daraus lernen können. Und bei allen (ALLEN) Seiten schließe ich mich selbstverständlich vollständig mit ein.