Es gibt viel Irrglauben rund um Depressionen. Einer davon ist, dass sie unheilbar seien und dass man sie als Betroffener einfach aushalten muss. Es gibt sicherlich Fälle, in denen das so ist. Depressionen aber sind vielfältig. Gerade, wenn sie einen biographischen Ursprung haben, gibt es oft Hoffnung auf Linderung oder sogar Heilung. Meine Geschichte ist dafür ein Positiv-Beispiel. Denn ich wurde von meinen Depressionen geheilt. Das bedeutet aber nicht, dass mein Leben jetzt nur noch aus Sonnenschein und guter Laune besteht. Es bedeutet, dass ich besser mit meinem Leben umgehen und es selbst gestalten kann und so zu meinem eigenen Wohlbefinden beitrage.

Seit ich denken kann, wohnt in mir eine generelle Lebensunlust. Ich empfinde vieles als anstrengend: morgens aufstehen, zur Arbeit gehen, meine Wohnung putzen, Rechnungen bezahlen und noch so vieles mehr. Das ist erstmal nicht ungewöhnlich. Wahrscheinlich geht es sogar sehr vielen Menschen so. Bei mir bekommt diese Unlust aber oft so eine Intensität, dass ich immer wieder dazu neige, das große Ganze in Frage zu stellen. Ich frage mich, wieso ich mich mit all diesen unschönen Dingen immer wieder abmühen muss. Ich frage mich, wozu ich das tue. Was auf der Haben-Seite in dieser Gleichung steht. Und im nächsten Moment steht dann mein Leben zur Debatte. Wieso ich überhaupt lebe. Wieso ich mir das antue. Wieso ich nicht endlich etwas dagegen tue.

Ich habe gelernt, dass man nichts dagegen tun darf. Dass Suizid etwas Schlechtes ist. Dass es nicht in Ordnung wäre, mich umzubringen. Also tue ich es nicht. Und die Enttäuschung darüber, dass ich mein sich leidvoll anfühlendes Leben nicht einfach beenden und mich erlösen darf, schleppe ich genauso durch meinen Alltag wie die lästigen Pflichten, die ich ableisten muss, um am Leben zu bleiben. Obwohl ich beides nicht will: die Pflichten nicht und das Leben nicht. Dennoch sitzt mir beides fest auf den Schultern und scheint mich an vielen Tagen beinahe zu erdrücken. Es ist ein dunkles Gefühl, das sich über allen anderen Gefühlen breit gemacht hat und mich beständig nach unten drückt. Ein Gefühl, das so omnipräsent ist, dass es alle anderen Gefühle klein erscheinen lässt. Auch wenn es Situationen gibt, in denen ich Wut oder Trauer, Glück oder Liebe empfinde, ist das immer nur von kurzer Dauer. Es dauert nicht lange, bis das dunkle allumfassende Gefühl sich wieder wie ein Schleier über mein Leben legt, alles unterdrückt, was gerade aufblühen wollte und mich am Boden hält. Über viele Jahre war ich überzeugt davon, dass sich jeder von uns so fühlt, als laste dieses Gefühl auf ihm. Und ich dachte, dass das, was ich als kleine aufstrebende und im Keim erstickte Gefühle beschreibe, das ist, was alle fühlen, wenn sie von Glück, Liebe, Wut oder Trauer sprechen.

Depression ist ein Gefühl, das alle anderen Gefühle wegdrückt

Heute kann ich die Depression als dunkles, alles überlagerndes, Gefühl erkennen. Als etwas, das manche haben und andere nicht. Vor ein paar Jahren ging das noch nicht. Da war die Depression das Normale. Sie war das, was da war, wenn die anderen Gefühle gerade nicht da waren. Also fast immer. Sie war aber nichts Eigenständiges. Nichts, was etwas anderes blockierte oder überdeckte. Sie war der Standard. Sie war mein Leben. Und ich dachte, dass es jedem so gehen würde wie mir. Ich wusste nicht, dass andere diese allumfassende Dunkelheit nicht kennen. Und dass sich ihre Gefühle anders anfühlten als meine.

Ich habe nie an Psychotherapie geglaubt. Ich dachte immer, das sei etwas für Memmen. Für Menschen, die zu schwach wären, mit ihrem Leben klarzukommen. Ich dachte, dass es die Pflicht jedes Menschen sei, mit seinem Leben klarzukommen. Und dass Hilfe eben nur eine Ausrede für Schwache sei. Und dass meine Geschichte nicht schlimm genug wäre, als dass ich Hilfe brauchen würde. Andere hätten es schlechter und für die müsste ich Platz lassen.

Dann kam der Zusammenbruch. Und irgendwie landete ich in einer analytischen Psychotherapie. Als ich mich mit Therapieformen beschäftigte, las ich schnell, dass bei einer Analyse alles aufgearbeitet werden würde und dass das dazu führen könnte, dass Dinge nachhaltig gelöst werden. Ich wollte das tun. Ich war bereit, alle Fragen zu beantworten. Ich war bereit, alles aufzuarbeiten. Denn ich hatte plötzlich ein kleines bisschen Hoffnung, dass es ein Leben geben könnte, das sich nicht so anfühlte wie mein Bisheriges. Ich hatte die Hoffnung, dass es ein Leben geben könnte, das ich leben wollen würde. Nicht eines, das ich ertragen müsste.

Therapie kann Hoffnung auf die Zukunft machen

In den drei Jahren meiner Therapie wurde alles aufgearbeitet und ausgegraben. Es kam ans Licht, was mir meine Eltern angetan hatten und wie sie es bis heute verschleierten. Mit jedem bisschen Wahrheit, das ich auf den Tisch legen konnte, veränderte sich die Depression. Sie war jetzt wie ein großes, unförmiges Bündel verschiedenster Gefühle, das auf mir lastete. Immer noch uneindeutig und nicht differenzierbar. Immer noch so, dass sie mich mit ihrer schieren Größe und Dunkelheit niederdrückte. Aber mit jedem Bisschen, was wir in der Therapie offenlegten, löste sich eine der Fesseln, die um dieses unbestimmbare Etwas gebunden waren. Und das führte dazu, dass ein bestimmbares Gefühl heraus purzelte. Da kam Wut zum Vorschein. Darüber, was mir angetan wurde. Und ich empfand Trauer für die Tatsache, dass mir niemand geholfen hat. Ich spürte Unverständnis darüber, wie man so mit einem Kind umgehen kann. Und manchmal auch Angst. Immer dann, wenn ich darüber nachdachte, mit was für einem irrsinnigen Gepäck ich die weitere Reise durchs Leben antreten müsste.

Aber mit jedem bestimmbaren Gefühl wurde das große dunkle amorphe Etwas über mir kleiner. Irgendwann so klein, dass ab und an ein Sonnenstrahl durchscheinen konnte.

Meine Depression gilt heute als remittiert. Für mich heißt das: sie ist weg. Ich spüre sie nicht mehr. Nicht als das, als was ich sie früher gespürt habe. Sie ist zerteilt in viele Gefühle, die fast alle klar zuzuordnen sind. Aber mit diesen Gefühlen kann ich umgehen. Ich kann sie bearbeiten, wenn ich dazu Möglichkeiten sehe. Ich kann sie aushalten, wenn ich mir eingestehen muss, dass es manchmal keinen anderen Weg gibt. Ich kann sie akzeptieren, weil ich weiß, dass auf der anderen Seite auch viel Gutes steht.

Ohne Depression ergeben auch negative Gefühle irgendwann einen Sinn

Meine Depression ist entstanden, weil ich all diese Gefühle nicht erkennen konnte. Ich konnte sie nicht fühlen, denn mir wurde nie beigebracht, sie zu erleben und zu verarbeiten. Ganz im Gegenteil: mir wurde sogar verboten, sie zu haben. Aus unverstandener Wut, unverstandener Trauer, unverstandener Angst ist so eine Depression gewachsen. Sie ist so groß gewachsen, dass sie nicht mehr als eigenständiges Etwas zu erkennen war. Wie eine riesige Gewitterwolke, die auch keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint, wenn man unter ihr steht.  

Die analytische Psychotherapie hat mich gelehrt, die Gefühle zu erkennen, zu verstehen und zu verarbeiten, aus denen sich meine Depression ein Leben lang genährt hat. Die Gefühle sind damit aber nicht weg. Sie belasten mich immer noch und sie werden mich auch ein Leben lang belasten. Aber sie sind jetzt zugänglich für mich.

Ich empfinde immer noch sehr viel Wut, wenn ich an das denke, was meine Eltern mit mir gemacht haben. Ich empfinde inzwischen aber viel weniger Wut als vor der Therapie. Vor der Therapie war die Wut manchmal unbändig und ungerichtet. Sie traf manchmal Menschen mit voller Wucht, die mir gar nicht so viel angetan hatten. In anderen Situationen dagegen schluckte ich sie runter, obwohl ich gerade komplett in die Ecke gedrängt worden war. Meine Wut war unspezifisch und vollkommen unklar. In der Therapie wurde sie dann befreit. Wie wenn man ein Ventil öffnen würde bei einem Kessel, der unter enormem Druck steht. Ich explodierte. Ich schleuderte meine Wut in viele Richtungen. Aber im Laufe der Zeit lernte ich, sie dahin zu richten, wo sie hingehört: auf meine Eltern. In einer Stärke, die ich von mir bis dahin nicht gekannt hatte. Nach einigen Ausbrüchen wurde sie dann kleiner. Der große Druck war irgendwann raus, aber der Kessel ist heute trotzdem nicht leer. Er wird es wahrscheinlich auch nie sein. Ich werde immer wütend werden, wenn ich daran denke, was meine Eltern mir angetan haben. Ich werde wütend werden, wenn ich sehe, dass andere Eltern ihren Kindern dasselbe antun. Ich werde wütend werden, wenn Menschen aus Unkenntnis und Dummheit handeln und damit ihrer Umwelt schaden, so wie es meine Eltern getan haben. Aber ich weiß jetzt, woher diese Wut kommt. Ich erkenne ihre Berechtigung an. Meine Wut darf sein. Meine Wut gehört genau dahin. Sie ist ein nachvollziehbares und berechtigtes Gefühl.

Ich empfinde auch Trauer. Trauer darüber, dass ich mit meiner Familie Pech hatte. Dass ich kein mich haltendes Familienkonstrukt erleben durfte, sondern ein Haus voller Chaos. Dass ich keinen liebenden Vater und keine liebende Mutter erlebt habe, sondern Menschen, für die mein Wohlbefinden nachrangig war. Trauer, dass es neben meinen Eltern niemanden gab, der an ihre Stelle treten wollte. Dass es bis heute niemanden in dieser Familie gibt, der an meiner Seite steht.

Ohne zumindest einen liebenden und fürsorglichen Menschen aufzuwachsen, bringt Nachteile im Leben. Man erlernt nicht den Selbstwert, den andere haben. Man wird immer von Zweifeln getrieben sein. Man wird immer misstrauisch sein. Ich würde mir anderes wünschen. Ich würde mir wünschen, dass ich ganz selbstverständlich mehr Selbstwert und mehr Selbstvertrauen habe. Aber ich erkenne an, dass ich diesbezüglich mit sehr viel weniger Fundament durchs Leben gehen muss als viele andere und dass ich mir meinen Selbstwert und mein Selbstvertrauen erarbeiten muss. Das macht mich traurig. Immer dann, wenn ich spüre, wo es mich behindert. Aber ich kann diese Trauer jetzt verstehen. Sie hat ihren Platz und sie hat ihre Berechtigung.

Angst und Trauer dürfen sein

Sehr häufig empfinde ich Angst. Ich habe das Gefühl, dass all die Behinderungen, die mir mitgegeben wurden, zu viel sind, um ein schönes Leben zu leben oder meine Ziele und Wünsche zu erreichen. Ich habe Angst vor der Zukunft, wenn ich merke, wie schwer es mir bis heute fällt, eine Partnerin zu finden oder auch einfach nur, jemanden anzusprechen. Ich empfinde Hoffnungslosigkeit, wenn ich daran denke, wie viele Jahre meines Lebens mir schon genommen wurden und wie alt ich sein werde, wenn ich irgendwann vielleicht doch einmal Vater werden sollte. Oder wenn ich daran denke, dass das vielleicht nie geschehen wird. Ich habe Angst davor, dass meine Selbständigkeit nicht funktionieren könnte. Ich habe Angst davor, wertlos für die Gesellschaft zu sein.

Auch dieses Gefühl ist berechtigt. Niemand kann immer optimistisch sein und niemand kann immer kampfeslustig und motiviert sein. Schwäche und Angst gehören genauso zum Leben wie Frohmut und Motivation. Gerade jemand mit einem Rucksack, wie ich ihn habe, hat alles Recht dazu, sich manchmal ängstlich zu fühlen. Für mich ist diese Angst inzwischen ein Zeichen dafür, dass ich etwas kürzertreten muss. Dass ich mir etwas Gutes tun sollte. Dass ich nach Entspannung suchen sollte, statt mit Verbissenheit irgendetwas ändern zu wollen. Dass ich mir sagen sollte, dass ich auf dem richtigen Weg bin und dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Damit hat auch dieses Gefühl seine Berechtigung.

Dadurch, dass ich gelernt habe, diese Gefühle zu verstehen, ist die Depression kleiner und kleiner geworden. Die Gefühle schweben jetzt nicht mehr als etwas Unerklärliches über mir, sondern sie sind ein Teil meines Lebens geworden. Ich kann sie verstehen und ich kann sie akzeptieren.

Aus der Depression wurden aber nicht nur negative Gefühle herausgelöst. In der Therapie habe ich auch gelernt, stolz zu sein. Stolz, dass etwas aus mir geworden ist, trotz all der Dinge, die ich in meinem Leben ertragen musste. Stolz darauf, dass ich mich selbst erzogen habe. Stolz darauf, dass ich das alles doch ganz gut bewerkstelligt habe bis hierhin.

„Angst besiegt man mit Mut“

In der Therapie ist Mut entstanden. Der Mut, den ich gebraucht habe, um mich der Depression zu stellen. Dieser Mut ist übriggeblieben, auch, nachdem die Depression weg war. Ich kann ihn jetzt für andere Dinge nutzen. Mit diesem Mut gehe ich jetzt alle anderen Themen in meinem Leben an. Er hilft mir, gegen die Angst zu bestehen. Denn Angst besiegt man mit Mut.

Und es ist Freude entstanden. Freude über all das Positive, was mir widerfährt. Freude über all das, was mir gelingt. Reine Freude, die ich einfach so empfinden darf. Ohne, dass ich das Gefühl haben muss, es gegen irgendetwas unbestimmtes Schwarzes aufzuwiegen, so wie ich das lange Zeit getan habe. Freude, die einfach so einfach sein darf.

Die Depression war ein großes Bündel von unbestimmten und unverarbeiteten Gefühlen, das lange Zeit über mir schwebte. Heute ist die Depression weg und die Gefühle haben ihren Platz gefunden. Sie gehören jetzt zu mir. Es gehört zu mir, dass es Tage gibt, an denen ich wütend bin, Tage, an denen ich traurig oder ängstlich bin und Tage, an denen ich den Mut habe, es damit aufzunehmen. Aber eben auch Tage, an denen ich stolz darauf bin, was ich geleistet habe und Tage, an denen ich mich einfach des Lebens freue.

Von einer Depression geheilt zu werden, bedeutet nicht, dass plötzlich alles eitel Sonnenschein ist. Die Narben meiner Taten werde ich mein Leben mit mir herumtragen. Aber ich kann sie jetzt sehen und ich kann sie akzeptieren. Das ist das, was analytische Psychotherapie kann. Sie kann Dinge in Zusammenhang bringen, sie kann die Fesseln um etwas Unverständliches lösen, sie kann lehren, mit dem Leben umzugehen, wenn zuvor versäumt wurde, diese Orientierung zu schaffen.

Die Therapie hat mich von der Depression geheilt. Sie hat mir Werkzeuge mitgegeben, das zu meistern, was mir in die Wiege gelegt wurde. Den Weg meines Lebens aber gehe ich allein. Und inzwischen gehe ich diesen Weg mit dem nötigen Mut, mit ein bisschen Stolz darauf, was ich mir an Werkzeug angeeignet habe und mit sehr viel mehr Freude als ich es vor Jahren noch möglich gehalten hätte. Mit Lust auf dieses Leben. Und definitiv nicht mehr mit dem Gedanken, dass mir dieses Leben zu viel wäre. Ganz im Gegenteil: ich will noch viel mehr von diesem Leben!


Meine Gedanken darüber, wie sich eine Depression äußern kann und wie sich der Weg zur Heilung anfühlt bzw. anfühlen kann, habe ich musikalisch in meinem Song „Deine Angst“ verarbeitet:

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